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Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler
Autoren: Paul Grossman
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passieren? Einem
Kriminalinspektor. Dem Träger des Eisernen Kreuzes Erster
Klasse. Zum Glück hatte er seine Bankkonten leergeräumt.
Aber wenn das nicht reichte?
    »Wie viel will
sie dafür, Sylvie?«
    »Was sie will?
Ich sagte dir doch, Willi, sie ist eine alte Freundin.
Außerdem ist ihr Ehemann ein sehr erfolgreicher
Geschäftsmann. Vermutlich wird sie ein Fest für dich
geben.«
    Etwas daran klingt zu
leicht, dachte er, als er rasch durch die ruhigen Straßen von
Wilmersdorf fuhr und in das dörfliche Grunewald. Fritz’
Haus lag auf dem Hügel, seine langen, geschwungenen
Glaswände glitzerten im Morgengrauen. Ein letztes Mal
ließ er den 320er BMW auf der Avus lospreschen, fuhr ihn bis
an seine Grenze aus … 120 … 130 … 140 …
Sein Herz hämmerte wie wild. Aber als er langsamer wurde, um
Berlin über Potsdam zu verlassen, legte sich die
Düsterkeit wieder über ihn. Niemand würde sein Leben
riskieren, um einen Fremden für nichts über eine
geschlossene Grenze zu schmuggeln.
    Wenn er es
überhaupt so weit schaffte.
    Aber Kraus kam
unbehelligt durch Deutschland. Von Berlin nach Hannover, von
Münster nach Dortmund, am Rhein entlang. Es gab keine
Straßensperren, keine Kontrollen. Einzig seine Erinnerungen
erschwerten sein Vorankommen. Er umklammerte das Lenkrad fast
krampfhaft und biss die Zähne zusammen, während sein
Verstand wanderte. Er sah Bilder, die über die Leinwand aus
weißen Wolken huschten und die ihm Tränen in die Augen
trieben. Seine Mutter, schwanger mit seiner kleinen Schwester, die
am Fenster saß, auf ihn hinunterblickte, wie er auf der
Straße spielte und ihm einen Kuss zuwarf. Vicki, die
aufwachte, ihren langen, weißen Hals streckte und
gähnte. Die Jungs, die zur Schule trotteten, die Lederranzen
auf dem Rücken. Der Große bestand darauf, den Kleinen an
die Hand zu nehmen, wenn sie eine Straße überquerten.
Noch bevor Kraus sich versah, ging die Sonne unter, und er hatte
die Grenzstadt Aachen erreicht.
    Jetzt würde die
echte Bewährungsprobe kommen. Wie würde ihn Sylvies
Freundin über eine geschlossene Grenze schmuggeln? Voller
Unbehagen stellte Kraus sich vor, wie er über ein dunkles Feld
geführt wurde, ganz allein. Und wie er die Hände so hoch
wie möglich in die Luft streckte.
    Wie ihm jemand in den
Hinterkopf schoss.
    Aber das Haus von
Sylvies Freundin lag an der Grenze, wie versprochen.
    Genauer gesagt, es lag
darauf.
    »Ein Schritt
durch die Hintertür, Herr Kraus, und voilà ,
Sie sind Ihre Heimat los. Sie nehmen den Bus zum Bahnhof, und in
weniger als zwei Stunden sind Sie in
Brüssel.«
    Erstaunlich. Ein
einziger Schritt in die Freiheit.
    In eine Heimat? Nein.
In die Staatenlosigkeit. Entwurzelung.
    Dafür aber Leben.
Liebe. Familie.
    »Machen Sie sich
frisch und essen Sie etwas. Sie müssen hungrig
sein.«
    Sylvie hatte recht
gehabt, was Trudes Großzügigkeit anging, aber offenbar
war sie sich im Unklaren über die finanziellen
Verhältnisse ihrer Freundin. Ihr Haus war geschmackvoll
möbliert, die Sachen jedoch waren alt. Die Teppiche
verschlissen. Ihr Pullover an den Ellbogen geflickt. Ganz
offensichtlich waren die fabelhaften Geschäfte ihres Gatten
während der Großen Depression verwelkt, was Trude ihrer
alten Schulfreundin aus Stolz verschwiegen hatte. Zu essen gab es
Würstchen mit Sauerkraut. Trude weigerte sich, auch nur einen
Pfennig anzunehmen.     
    »Ich würde
alles tun, um zu helfen.« Sie füllte seinen Teller ein
zweites Mal. »Angesichts dieser Nazis schämt man sich,
ein Mensch zu sein.« Sie sah auf ihre Uhr. »Sie sollten
jetzt besser gehen, mein Lieber. In ein paar Minuten kommt der
Bus.«
    Sie öffnete die
Hintertür und schenkte ihm ein Lächeln, das zu sagen
schien: Sie
können sich glücklich schätzen, Herr Kraus. Sie
haben es geschafft. So viele andere werden es nicht
schaffen. Kraus lächelte auch, denn er
wusste, dass sie recht hatte. Dann erinnerte er sich plötzlich
an etwas, griff in die Tasche und zog einen kleinen, silbernen
Schlüssel heraus. »Für Ihre Freundlichkeit.«
Er zwinkerte ihr zu. »Der kleine BMW vor der
Tür.«
    Er reichte ihr den
Schlüssel und trat über die Schwelle. Es war Nacht
geworden. Und es war eiskalt. Er kam sich vollkommen nackt vor,
aber er glaubte, noch nie wacher gewesen zu sein, als er den Kragen
seines Mantels zuknöpfte und ins Exil schritt. Letztlich
– er warf einen Blick auf die dunkle Straße und blickte
dann zum Himmel –, besser ein wandernder Jude – er sah
Sterne am schwarzen
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