Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler
Autoren: Paul Grossman
Vom Netzwerk:
Und seine beiden armen Kinder, Erich
und Stefan, die ihren Vater nie mehr wiedersehen
würden.
    Im nächsten
Moment fauchte ein wahrer Feuersturm durch das Restaurant. Die
Arbeit des Brandstifters war vollbracht. Ein ungeheures Krachen
ertönte, als Glas zersplitterte, und lenkte Thurmann ab. Kraus
nutzte die Gelegenheit. Er senkte den Kopf und rammte ihn seinem
Widersacher in den Bauch. Der Mann klappte zusammen, und die Luger
rutschte über den blanken Boden. Ein Schlag auf den
Solarplexus raubte Kraus kurz den Atem, ein schwarzer Schleier
legte sich vor seine Augen. Undeutlich erkannte er, dass Thurmann
nach seiner Pistole tastete. Das ist es, dachte Kraus. Das ist das
Ende. Für einen von uns. Und aus seinem tiefen Inneren raffte
er eine Energie zusammen, die er nie in sich vermutet
hätte.
    Er sprang Thurmann an,
packte den Mann an der Kehle und drückte beide Daumen auf
dessen Luftröhre. Thurmanns Miene schlug von Hohn in Schock
um, dann in blankes Entsetzen. Er riss mit aller Kraft an den
mörderischen Daumen, aber Kraus war in seiner Wut
unerbittlich. Das ist für Paula!, dachte er, während ihm
vor Rachsucht bittere Galle in den Mund stieg. Es freute ihn, zu
sehen, wie Thurmanns dünner Schnurrbart vor Qual krampfhaft
zuckte. Und für Gina Mancuso und all die anderen armen Seelen,
die ihr in Sachsenhausen gefoltert und ermordet habt! Thurmanns
Gesicht schwoll an, wurde blau, und die Augen, deren Blick noch vor
wenigen Augenblicken so arrogant und selbstgefällig gewirkt
hatte, verdrehten sich, bis nur noch das Weiße zu sehen war.
Kraus hatte nur einmal einen Mann getötet, im Nahkampf,
während des Krieges, als er einem französischen Soldaten
das Bajonett in die Brust gerammt hatte. Ihm war bei dem
schrecklichen Knirschen des Brustkastens schlecht geworden. Aber
das hier war etwas anderes. Das war Gerechtigkeit.
    Dieser Nazi musste
sterben.
    Als die Hände des
Feindes ein letztes Mal zitterten, der Kopf schlaff zur Seite fiel
und die Augen weit offen blicklos ins Nichts starrten, war Kraus
zufrieden.
    Er rollte sich von der
Leiche herunter und rang nach Luft, bis er merkte, dass er keinen
Sauerstoff, sondern Rauch einatmete. Die ganze Wand zu seiner
Linken war eine einzige Feuerwand. Er riss sich zusammen und
stolperte die Treppe hinunter. Kai lag auf dem Boden. Der ganze
Gang war von schwarzem Rauch erfüllt. Sie mussten hier weg.
Aber nicht ohne diese Beweise! Er riss den Jungen hoch, stieß
ihn in den Lagerraum und leuchtete hektisch mit der Taschenlampe
hin und her, um die Kisten zu finden. Von Schleicher hatte davon
gesprochen, dass hier unten Berge von Material lagerten, und das
war vermutlich seine einzige wahre Versicherung gewesen. Kraus
dachte an die Garantie des Generals, dass man »sich in einem
Jahr nicht einmal mehr an Hitlers Namen erinnern« würde.
Dann machte sein Herz einen Satz. Da waren sie! Sie standen nur ein
Dutzend Schritte weit im Raum, in zwei ordentlichen Reihen
gestapelt.
    Die relativ saubere
Luft in dem Raum hatte Kai wiederbelebt, so dass er helfen konnte,
den Karren durch die Tür zu ziehen. Aber kaum hatten sie ihn
in den Lagerraum gebracht, flammte die Unterseite der Decke wie ein
Gasofen auf. Kraus drehte sich um. Die Wäschekammer wurde von
Funken erleuchtet, ganze Regale mit Decken und Servietten
entzündeten sich. Und jetzt fingen auch schon Teile des
Lagerraums Feuer. Sie mussten hier weg! Jede Verzögerung
konnte den Tod bedeuteten. Aber konnte er wirklich alles,
wofür er so hart gekämpft hatte – er hustete
–, das, wofür Paula gestorben war, all diese
Horrorgeschichten in diesen Kisten, einfach in Rauch aufgehen
lassen? Kraus machte einen Schritt auf die Kisten zu.
»Papa!« Er hörte seine Söhne weinen, aber er
ignorierte es. »Willi, bitte …« Das war Ava.
Seine Kehle brannte. Funken und brennende Späne versengten
seine Haut. Er achtete nicht darauf, sondern hatte nur Augen
für die Kisten vor ihm.
    »Um Gottes
willen, was tust du da?« Er konnte es nicht glauben. Vicki!
Er hörte sie nicht nur, nein, er sah auch, wie sie durch die
Flammen auf ihn zuschritt. Ihr kurzes, welliges Haar glänzte
im Licht der Flammen. Ihre mandelförmigen Augen glitzerten.
»Diese achthundertfünfzig Menschen sind tot, Willi. Dein
Vater ist tot. Ich bin tot. Nichts, was du tust, kann uns
zurückholen!«
    Ging es denn wirklich
nur darum?, hätte er sie gern gefragt. Meine ganze Karriere,
mein ganzes Leben, war all das nur ein Versuch, die Toten wieder
lebendig zu machen?
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher