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Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler
Autoren: Paul Grossman
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Aber sie verschwand. Und an ihrer Stelle stand
sein Cousin Kurt und winkte ihm fröhlich zu. »Komm nach
Tel Aviv.« Er trug einen Badeanzug. »Die
Sonnenuntergänge über dem Mittelmeer, Willi … sie
sind einfach großartig. Du wirst Berlin nicht vermissen.
Außer das Essen, vielleicht, ein bisschen
jedenfalls.«
    »Geh,
Willi!«, befahl Vicki plötzlich. »Geh! Tu es
für die Jungs. Für die Zukunft!«
    Die Luft brannte. Kai
rang nach Luft. Die Flammen krochen näher. Die Kisten mit den
Beweisen verschwanden hinter einem undurchdringlichen Vorhang aus
Rauch. Sie hatten keine Sekunde länger Zeit. Kraus erinnerte
sich an den Mann, der aus dem kommunistischen Hauptquartier
gestürzt worden war und mit den Armen geschlagen hatte, um
gegen die Schwerkraft anzukämpfen. Einige Dinge konnte man
nicht bekämpfen. Im Angesicht von Wirbelstürmen, von
Erdbeben gab es keine Gerechtigkeit. Es war der schmerzlichste
Schritt, den er jemals gemacht hatte. Er riss sich los, als
würde er seinen halben Körper, seinen halben Verstand,
die Hälfte von weiß Gott was noch zurücklassen,
schnappte sich Kai und floh, führte ihn durch ein Labyrinth
von Gängen, die ebenso leer und schwarz waren wie sein Herz.
Da er sich den Grundriss eingeprägt hatte, wusste er
wenigstens, wie er hier wieder herauskam.
    Sie stolperten auf die
Sommerstraße, keuchend und vollkommen von Ruß bedeckt.
Es war pechschwarz und eiskalt. In dem Lärm und dem Chaos
bemerkte sie niemand. Feuerwehrwagen rasten heulend aus allen
Richtungen heran. Entsetzte Zuschauer hielten sich den Kopf,
streckten die Hände aus, auf ihren fassungslosen Gesichtern
loderten rötliche Flammen. Der ganze Reichstag war ein
einziges Flammeninferno. Aus den Fenstern und dem Dach der Kuppel
leckten lange, feindselige Zungen. Aber die finster wirkende Gruppe
neben ihnen, in Trenchcoats und Filzhüten, wirkte seltsam
munter.     
    »Endlich!«,
stieß einer fiebernd hervor. Seine Augen glühten fast
ebenso hell wie das brennende Gebäude. »Die lang
ersehnte Stunde ist gekommen. Deine dunkle Nacht ist vorüber,
Deutschland. Die Flammen rufen uns zu: Erwache! Erhebe
dich!«
    »Die Polizei und
die Hilfskräfte der SA sind bereits in Marsch gesetzt, mein
Führer!«
    »Ich will, dass
jeder kommunistische Funktionär offiziell erschossen wird.
Noch heute Nacht. Ebenso die Stellvertreter. Die Freunde der
Kommunisten. Die Sozialdemokraten. Jeder, der sich uns in den Weg
stellt.«
    »Jawohl!«
    »Ab morgen
kümmern wir uns um den Rest.«
    Kraus zog Kai weg,
wäre am liebsten gerannt und hätte nicht mehr
zurückgeschaut. Aber der Sog war übermächtig. Wie
Lots Frau drehte er sich ein letztes Mal herum und erstarrte wie
sie, zu einer Salzsäule der Verbitterung. Die eisernen
Verstrebungen, welche die Glaskuppel des Reichstages getragen
hatten, verbogen sich wie in Todesqualen, und das ganze
wunderschöne Symbol der Freiheit brach mit einem
höllischen Krachen zusammen. Es war mehr als nur ein
Gebäude, das hier brannte, das begriff Kraus besser als jeder
andere. Die Flammen vernichteten nicht nur die Beweise von
Sachsenhausen.
    Sie vernichteten die
Zukunft von Millionen Menschen.

 
    ZWEIUNDDREISSIG
    Er floh. In der
Dunkelheit kurz vor dem Morgengrauen fuhr er über die
Tiergartenstraße zum Breitscheidplatz, an der
Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche vorbei, deren Glocken die
bittere Stunde schlugen. Über den Ku’damm, dessen
Neonwerbung schwarz an den schlanken Fassaden hing. Nur ein paar
Leute führten ihre Hunde aus. Eine gelbe Straßenbahn
ratterte vorbei, die erste des Tages. Die Frühausgabe
der Berlin
am Morgen wurde bei den Kiosken angeliefert.
In einer Stunde würden die Briefträger ihre Runden
beginnen. Vorhänge in einer Million Wohnungen würden
zurückgezogen, Kissen und Überdecken zum Lüften auf
die Fensterbänke gelegt. Herrenreiter würden über
die alten, kaiserlichen Wege im Tiergarten traben. Angestellte und
Sekretärinnen würden in die U- und S-Bahnhöfe
strömen. Tietz würde seine Drehtüren
aufschließen. Ruta würde ihre Kaffeebohnen mahlen, und
die Polizisten im Polizeipräsidium würden an ihre Arbeit
gehen. All das ohne ihn.
    Kraus war innerlich zu
abgestorben, als dass es ihn bewegt hätte.
    In der letzten Nacht
mit leeren Händen vom Reichstag wegzugehen war die schlimmste
Erfahrung seines Lebens gewesen. Schlimmer als der
Kapitulationsmarsch von 1918. Schlimmer sogar als das betäubte
Wegschleichen aus dem Krankenhaus, als Vicki gestorben war. Nachdem
er
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