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Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler
Autoren: Paul Grossman
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Firmament –, als ein toter. »Ich
habe für euch Leben und Tod hergerichtet, Segen und
Fluch.« Ein Zitat aus seiner Kindheit, aus dem Fünften
Buch Mose, kam ihm in den Sinn. »Also wählt das
Leben«, er ging weiter, »auf dass Ihr und Eure Saat
leben möge.«

 
    EPILOG
    Oktober
1945
    Knapp fünf Monate
nach dem Fall von Hitlers Tausendjährigem Reich gab Kraus
einem schrecklichen Drang nach und kehrte zurück. Es waren
zwölf Jahre vergangen, die dunkelsten in der
Menschheitsgeschichte. Fünfzig Millionen Menschen waren tot.
Zwanzig Millionen Russen. Sechs Millionen Juden. Er hatte von der
Zerstörung der deutschen Städte gelesen, hatte die Fotos
in den Zeitungen gesehen, aber als er über Tempelhof schwebte,
raubte ihm der erste Blick den Atem.
    Das war
Berlin?
    Häuserblock um
Häuserblock, Straße um Straße, Geschäfte,
Schulen, Kirchen, alles nur noch leere Hüllen. Kilometerweit
verwüstete Steinfelder, hier und da ein Schornstein oder eine
Wand, die sich aus den Trümmern erhob. Er erinnerte sich
daran, wie er einmal während eines Streiks der Busfahrer zu
Fuß zur Arbeit gegangen war und sich das Ausmaß der
Verheerung vorgestellt hatte, das ein weiterer Krieg bringen
könnte. Aber seine Vorstellungskraft hatte nicht ausgereicht,
bei weitem nicht.
    In seinem neuen Heim,
auf dem Balkon im vierten Stock eines Hauses in der
Hayarkonstraße, von dem aus er den Strand sehen konnte,
schwappten die Wellen des Mittelmeeres praktisch zu seinen
Füßen. Dahinter breitete sich die weiße Stadt Tel
Aviv aus, auf deren breiten, grünen Boulevards es vor Leben
nur so wimmelte. Stolz. Frei. Und obwohl er wusste, dass es jede
Menge Schwierigkeiten in diesem heißen, kleinen
Wüstenland gab, hatte er dort ein gutes Leben. Und eine gute
Arbeit als Inspektor bei der Polizei. Und eine Vierzimmerwohnung in
einem eleganten Haus, das von     
    einem
Protégé von Erich Mendelsohn gebaut worden war. Dazu
eine liebende Frau und vier wundervolle Kinder. Aber er musste
zurückkommen – ein letztes Mal. Um es mit eigenen Augen
zu sehen. Und einige Dankesschulden zurückzuzahlen, wenn es
möglich war.
    Die Fahrt vom
Flughafen in die Stadt erschütterte Kraus noch mehr, als der
Anblick aus der Luft es vermocht hatte. Lange Schlangen von Frauen,
mit schmutzigen Tüchern wie Turbane um den Kopf geschlungen,
schufteten, um die Trümmer wegzuräumen, mit ihren
Händen, Stein um Stein, wie Insekten, die versuchten, ihre
zerstörten Bienenstöcke zu reparieren. Familien lebten in
wandlosen Wohnhäusern wie in Puppenhäusern. Ihr Leben
wurde zur Straße hin vollkommen zur Schau gestellt, sie
hatten schmutzige Decken aufgehängt, um wenigstens ein
bisschen Privatsphäre zu haben. Hagere, blasse,
barfüßige Kinder spielten auf ausgebrannten Panzern und
Fliegerabwehrkanonen. Seine eigene Kindheit war dagegen traumhaft
gewesen. Auf zahllosen, bröckelnden Wänden waren mit
Kreide Nachrichten gekritzelt: Vater, Anna und ich sind am
Leben und wohnen bei …
    Es kostete zwei Tage,
aber durch das Postbüro gelang es Kraus, die Adresse seiner
ehemaligen Sekretärin zu finden. Ihre Unterkunft in Ostberlin
war eine kleine Hütte mitten im Schutt, erbaut aus
Stahlblechen und Holzplanken, an deren Seite sich ein winziger
Gemüsegarten drängte. Sie war schockiert, als er
auftauchte, zu glücklich, um sich zu schämen, sagte sie
und weinte in seinen Armen.
    »Oh, Willi, Sie
haben so viel Glück gehabt, dass Sie rechtzeitig weggegangen
sind.«
    »Du hast einmal
dein Leben für mich riskiert … Und jetzt möchte
ich dir helfen, Ruta.«
    Er gab ihr so viel
Geld, dass sie mit ihrer Familie in die Siemenssiedlung umziehen
konnte, die von den Bomben verschont geblieben war und im sicheren
amerikanischen Sektor lag. Sie konnte nicht aufhören, sich bei
ihm zu bedanken, als er die löchrige Decke beiseiteschob und
in die Sonne hinaustrat.
    Natürlich war
auch ihm jetzt klar, dass er von Glück reden konnte, dass er
rechtzeitig das Land verlassen hatte. Und dass er 1938 aus
Frankreich geflohen war, ein Jahr bevor es zu spät gewesen
wäre. Vielleicht … wenn er niemals jene Gläser mit
den darin schwimmenden Gehirnen gesehen hätte, diese Baracken
mit den verunstalteten Gefangenen in Sachsenhausen, dann hätte
er sich vielleicht nicht gezwungen gefühlt, seine Familie ein
zweites Mal zu entwurzeln und sie in ein unbekanntes Land zu
bringen. Er wäre vielleicht geendet wie sein Jugendfreund
Mathias Goldberg, das Werbe-Genie, der 1939, als der
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