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Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler
Autoren: Paul Grossman
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Kai die Hauptschlüssel gegeben hatte, damit er sie Ruta
brachte, war er durch die Dunkelheit geschlichen, staubig und
verrußt, immer noch in seiner Wäschereiuniform. Seine
Augen hatten zu sehr gebrannt, um das zu fassen, was sie sahen.
Lastwagen mit SA-Braunhemden, die durch die Straßen rasten.
Lange Reihen von Gefangenen auf den Bürgersteigen, die
Hände in die Luft gestreckt; viele noch in ihren
Schlafanzügen und einige mit Schildern um den Hals:
    
    Ich bin ein
Kommunistenschwein! Aus den Fenstern des
Hauptquartiers der Sozialdemokraten flogen Schreibmaschinen und
Schreibtische auf die Straße. Um die Ecke, vor einem
geplünderten Blumenladen, standen ein Mann und eine Frau,
entkleidet bis auf die Unterwäsche, hielten Sträuße
von Gladiolen in den Armen und mussten schreien: »Ich bin ein
Verräter! Diese Blumen sind für mein
Grab!«
    Kraus hätte es
verhindern können. Hätte die Nation retten können.
Die ganze Welt.
    Aber er hatte
versagt.
    Sylvie wartete bereits
auf ihn, als er nach Mitternacht ins Haus stolperte. »Du
musst verschwinden, Willi. Gleich morgen früh. Und du kannst
dich noch glücklich schätzen!«
    Doch ein paar Minuten
später erfuhren sie, dass eine Flucht nicht so leicht war, wie
sie gedacht hatten. Deutschlands Grenzen waren geschlossen,
verlautbarte ein Radiosprecher. Niemand durfte ohne ein besonderes
polizeiliches Visum das Land betreten oder verlassen, laut dem
neuen »Dekret für den Schutz von Volk und
Vaterland«, das der Führer erlassen hatte.
    » Unser Führer, nennen sie ihn jetzt
im Radio«, sagte Sylvie und rang die Hände.
    Die kommunistische
Partei und die Sozialdemokraten wurden verboten, ihre Publikationen
beschlagnahmt. Gewerkschaften aufgelöst. Alle Zeitungen wurden
streng reguliert. Die Rede- und Versammlungsfreiheit wurde
beschnitten. Kraus begriff, dass Oppenheimers Theorie der
Kettenreaktion sich als absolut zutreffend erwiesen hatte. Ein
unheimliches Gefühl überkam ihn, und ihm standen die
Haare zu Berge. Das hatte der Große Gustave prophezeit
… Ein Feuersturm, der im Februar durch das Haus Deutschland
fegen würde. Konnte das alles bereits vor Monaten geplant
gewesen sein?
    Auch die Juden, die
Stimme des Nachrichtensprechers schwoll an, würden nicht
ungestraft davonkommen, da sie ja ganz offensichtlich von diesem
Verbrechen gegen das deutsche Volk profitierten. Dass auch sie
Deutsche waren oder auf welche Weise sie vom Brand des Reichtags
profitierten, wurde nicht weiter ausgeführt. Nur, dass am 1.
April ein landesweiter Boykott gegen alle jüdischen
Geschäfte und sämtliche jüdischen Dienstleistungen
beginnen würde. Jeder Deutsche, der ein jüdisches
Geschäft unterstützte oder zu einem jüdischen Arzt
ging, einem jüdischen Anwalt, einem jüdischen Zahnarzt,
Buchhalter, Schneider und so weiter, würde als
Vaterlandsverräter angesehen werden. Außerdem
würden die Preußische Staatsbibliothek und die
Universität von Berlin von allen jüdischen
Schriftstellern und denen, die nicht deutsch dachten und seit
Generationen die Geister der Jungen verseuchten, gereinigt
werden.
    Sylvie schaltete das
Radio aus. »Ich werde eine Möglichkeit finden, dich aus
diesem Albtraum herauszuholen.« Sie nahm ihr Adressbuch und
fing an, es durchzublättern.
    Kraus lag auf der
Couch. Er war zu erschöpft, um sich zu bewegen. So hatte er
sich nach Vickis Beisetzung gefühlt. Und nach der seines
Vaters, während der rituellen Trauerwoche. Als er im Salon
gesessen und auf all die Dinge geblickt hatte, die er schon sein
Leben lang kannte, begriff er, dass nichts für ihn vertraut
aussah. Seine ganze Welt war unter ihm weggeglitten, wie bei einem
Erdrutsch.
    Er hörte, wie
Sylvie den Hörer auflegte. »Gut, ich habe eine
Möglichkeit gefunden.«
    Er sah, wie sich ihre
Lippen bewegten, aber er verstand kaum, was sie sagte.
    »Meine alte
Schulfreundin Trude lebt an der belgischen Grenze. Ich habe sie
seit Jahren nicht gesehen, aber sie ist vertrauenswürdig. Sie
sagt, sie könnte dich über die Grenze schaffen, aber du
musst schnell kommen. Die Lage könnte sich sehr bald
verschlechtern.«
    Kraus schloss die
Augen. Zweitausend Jahre lang waren seine Ahnen immer wieder ins
Exil getrieben worden, von einem Land zum anderen, von einem
Kontinent zum anderen, nur mit dem, was sie am Leib trugen. Jetzt
war er an der Reihe. Wie hatte er sich nur der Vorstellung hingeben
können, dass es niemals dazu kommen würde? Doch nicht in
Deutschland. Ihm würde das doch nicht
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