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Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler
Autoren: Paul Grossman
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ein
Mädchen.
    Im Wohnzimmer machten
sie ein großes Gewese um seinen abrupten Aufbruch.
»Musst du weg, um einen anderen Feind zu fangen?«
Sylvie sprang auf, um ihn zu eskortieren, und nahm seinen
Arm.
    »Sie sind ein
ziemlicher Star geworden, nicht wahr, Kraus?« Die Dietrich
musterte ihn, als wäre er ein kostbares Rennpferd.
»Selbst in Amerika kennt man den großen Kriminalisten,
der dieses Monster, den Kinderschänder von Berlin, dingfest
gemacht hat. Sie sollten nach Hollywood kommen. Ich wette, man
macht einen Film über Sie.«
    »Ich glaube
nicht, dass sie einen Schauspieler finden würden, der auch nur
annähernd langweilig genug wäre, um mich spielen zu
können.« Kraus zwang sich zu einem
Lächeln.
    Fritz lachte viel zu
laut über diesen Scherz, und der lange, gezackte Schmiss auf
seiner Wange lief knallrot an.
    Kraus nahm die neue
Schnellstraße nach Spandau. Im Sommer war sie eine
Rennstrecke, ansonsten aber war die Avus für den
Straßenverkehr geöffnet und für gewöhnlich
leer. Die Kiefernwälder warfen einen unheilvollen Schatten,
als er beschleunigte. Wie die Deutschen ihre Wälder lieben,
dachte er, während er in den vierten Gang hochschaltete. Je
dichter und dunkler, desto besser. Ihm persönlich war der
Strand lieber. Und gleißender, strahlender Sonnenschein.
Freies Gelände. Aber diese Straße war wirklich
großartig. Ein weißer Streifen in der Wildnis. Er fuhr
viel schneller, als er sollte, vor allem nach soviel Champagner.
Doch der Adrenalinstoß war zu berauschend. Das silberfarbene
BMW-Sportcoupé war der einzige Luxus, den er sich
gönnte. Er sammelte keine Kunst, und er reiste auch nicht. Und
er hielt keine Frauen aus. Er war einfach nur langweilig. Die sechs
Zylinder des BMW 320 brachten den Wagen auf hundert
Stundenkilometer. Er war gerade langweilig genug gewesen, um der
berühmteste Polizeiinspektor Deutschlands zu werden. Das
Fahrzeug lag auf der Straße, als würde es sich kaum
bewegen, dabei fuhr er hundertzehn. Die Kiefernwälder
verschwammen, als sie vorbeihuschten. Was für ein Idiot Fritz
sein konnte, wenn er betrunken war! Kraus trat das Gaspedal durch
und beschleunigte auf über einhundertzwanzig. Er schien
über der Autobahn zu schweben.
    Trotzdem würde
Kraus ihm sein Leben anvertrauen.
    Eine halbe Stunde
später kroch er über die mittelalterlichen Straßen
von Alt-Spandau, einer der wenigen Stadtteile Berlins mit
authentischer Geschichte. Schmale Straßen, gesäumt von
Fachwerkhäusern, führten zu der Zitadelle aus dem 15.
Jahrhundert, deren massive Mauern sich immer noch an der Stelle
erhoben, an welcher die Spree in die Havel mündete. Als er den
Wagen parkte, ging die Sonne über dem grauen Wasser unter. Am
Ufer erblickte er mehrere Uniformierte in ihren Ledermänteln
und den glänzenden Helmen mit den schwarzen
Schirmen.
    »Inspektor.« Die
Männer entdeckten ihn sofort und bildeten eine
Gasse.
    Selbst auf der
Straße erkannten ihn die Menschen, baten um ein Autogramm und
ließen sich mit ihm fotografieren. Der große Kinderschänder -Fänger.
Eine Mischung aus Bewunderung und Neid schlug ihm entgegen, als die
Polizisten ihn umringten. Etliche Kollegen aus der Abteilung
interessierte sein Ruhm überhaupt nicht, und ihm selbst lag
auch nichts daran. Sie waren alle Vertreter des Gesetzes. Ohne
Gesetze waren die Schwachen wehrlos.
    »Machen Sie sich
auf eine Schweinerei gefasst«, sprach ein Beamter namens
Schmidt ihn an.
    Kraus hatte
während seiner Dienstzeit bei der Mordkommission der Berliner
Kriminalpolizei schon mehr als genug Leichen gesehen.
Verstümmelte Leichen, enthauptete Leichen, Leichen, die man
gekocht und in Wurstpellen gestopft hatte. Aber diesmal blieb ihm
fast das Herz stehen. Dieses Berlin der Weimarer Republik, das von
den Jahren des Krieges, der Niederlage, der Revolution, der
Inflation und jetzt der Depression gebeutelt wurde, in dem fast
eine Million Menschen arbeitslos waren, dessen Regierung wie
paralysiert schien und in dem es vor Lasterhaftigkeit drunter und
drüber ging … Sexverrückte, Serienkiller,
Schlägertrupps der Rot- und Braunhemden, die sich um die
Kontrolle auf den Straßen     
    prügelten
… diese Stadt, die das Ende der Fahnenstange erreicht hatte,
die kein Morgen kannte, die am Rand des Abgrunds taumelte …
der Diktatur … selbst in dieser Stadt war das ein Bild des
blanken Horrors.
    Am Rand des Wassers
lag ein Mädchen mit dem Gesicht nach oben, von Schlamm und
Schlingpflanzen eingehüllt wie Shakespeares
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