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Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler
Autoren: Paul Grossman
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gewesen sei.
    »Alles ruhig an
der Westfront, Chef«, antwortete sie und mahlte unbeirrt
Kaffee in ihrer kleinen, hölzernen Kaffeemühle. Jeden
Morgen bereitete sie das köstlichste frische Gebräu auf
dem kleinen Gasofen zu, der jedem Kriminalinspektor zustand. Hatte
sie gute Laune, gab es auch frische, warme Brötchen aus
dem Café Rippa im Erdgeschoss.
»Seit der Meerjungfrau gibt es keine neuen
Opfer.«
    Irgendwie war sie
immer bestens über alles informiert, praktisch noch bevor es
passierte.
    »Oh, die
Rechtsmedizin hat angerufen. Dr. Hoffnung möchte, dass Sie so
schnell wie möglich bei ihm vorbeischauen.«
    »Ausgezeichnet.
Ist Gunther schon da?«
    »Nein, noch
nicht.«
    »Schicken Sie
ihn runter zu Hoffnung, sobald er auftaucht.«
    Der Rechtsmediziner
stand in seinem weißen Laborkittel am Fenster, starrte hinaus
und rauchte Pfeife, als Kraus hereinkam. Als er sich umdrehte, fiel
Kraus die finstere Besorgnis in seinen Augen auf.
    »Ich habe hier
wirklich etwas Außerordentliches gesehen.« Er bedeutete
Kraus mit einer Handbewegung, sich zu setzen. »Hätten
Sie mir das gestern erzählt, hätte ich es nicht für
möglich gehalten. Aber jetzt …« Dr. Hoffnung
zündete sich die erloschene Pfeife neu an.
    Kraus sah, dass seine
Hand heftig zitterte.
    »Beginnen wir
mit den Äußerlichkeiten.« Das Rauchen schien Dr.
Hoffnung zu entspannen. »Dieser graue Kittel, den das
Mädchen trug, gehört zum Standardinventar von
Preußischen Nervenheilanstalten. Zahlreiche Schnittwunden auf
ihrer Kopfhaut lassen darauf schließen, dass ihr der Kopf
tatsächlich kahlgeschoren wurde. Etliche dieser Institutionen
wenden diese Praxis an. Ansonsten gab es keine größeren
inneren oder äußeren Verletzungen. Sie war noch sehr
lebendig, als sie ins Wasser gegangen ist. Und sie ist nicht
ertrunken. Es ist ihr gelungen, fünfzehn oder zwanzig Minuten
über Wasser zu bleiben, bis sie an Unterkühlung gestorben
ist. Sechs, möglicherweise sieben Stunden, bevor wir sie
herausgezogen haben. Ich würde sagen, sie war eine sehr
entschlossene junge Dame. Sie wollte unbedingt
leben.«
    »Diese Beine,
Doktor …«
    »Wie ich sagte,
ich hätte so etwas niemals für möglich gehalten. Bei
beiden Beinen ist das Wadenbein, der Knochen, der vom Knie zum
Knöchel führt, chirurgisch entfernt und in das jeweils
andere Bein verpflanzt worden. Das wurde mittels einer sehr
fortschrittlichen Technik durchgeführt, mit der ich absolut
nicht vertraut bin. Seit Jahren spekulieren Ärzte über
die Möglichkeit von Knochentransplantationen, aber so weit ich
weiß, wurde noch nie eine erfolgreich durchgeführt. Bis
jetzt.«    
    »Knochentransplantation?«
Kraus war wie vom Donner gerührt. Und dabei hatte er geglaubt,
schon alles gehört zu haben. »Aber …
warum?«
    »Das weiß
ich nicht. Vermutlich, um herauszufinden, ob es machbar ist. Ich
kann nur beschreiben, was ich gesehen habe.«
    »Wann
könnte diese Transplantation durchgeführt worden
sein?«
    »Vor
höchstens sechs Monaten. Die Transplantationsnarben waren
vollkommen verheilt und die Beine vollkommen gesund. Abgesehen
davon natürlich, dass sie damit nicht mehr laufen konnte. Sie
hat höchstens noch humpeln können, auf
Krücken.«
    »Humpeln?«
Kraus versuchte, das alles zu begreifen. »Sie meinen, die
Operation hat sie verkrüppelt?«
    »Ja.« Der
Arzt senkte den Blick. »Genau das meine
ich.«
    Kraus zog sich die
Kehle zusammen. »Das Mädchen ist gesund gewesen? Ihre
Beine waren gesund? Und man hat an ihr …
herumexperimentiert? Man hat sie absichtlich
missgebildet?«
    Dr. Hoffnung starrte
aus dem Fenster. »Das ist kaum zu glauben, ich weiß.
Wir alle betrachten Ärzte als Hüter des Lebens. Sie sind
von vorneherein vertrauenswürdig. Selbst uralte Zivilisationen
haben ihre Medizinmänner verehrt. Aber hier, im Berlin des
Jahres 1932, haben wir einen Chirurgen, der offenbar keinerlei
Bedenken zu haben scheint, einen Menschen als Versuchskaninchen zu
missbrauchen.«
    Er drehte sich zu
Kraus herum. Auf seinem Gesicht malte sich schmerzlicher Ekel ab.
»Inspektor, wer auch immer das gemacht hat, war ein Genie.
Ein Wahnsinniger. Aber ein außerordentlich talentierter
Wahnsinniger. Auf jeden Fall einer der besten lebenden
orthopädischen Chirurgen.«
    Kraus schloss die
Tür zur Rechtsmedizin hinter sich und prallte fast mit Gunther
zusammen. Die lange Bohnenstange von Mann war mindestens einen Kopf
größer als Kraus, wahrscheinlich dafür nur halb so
schwer, hatte eine lange Nase und
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