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Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler
Autoren: Paul Grossman
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ist nicht so schlimm, Vati.«
    »In den Ferien
besprechen wir die Lage und ergreifen dann geeignete
Maßnahmen. Wie klingt das?«
    Erich
nickte.
    Kraus bemerkte, dass
er sich hastig eine Träne aus den Augen wischte.
    Nach dem Hauptgang
empfahl Großvater den Jungs, sich etwas am Nachtischtresen
auszusuchen. »Lasst euch Zeit. Seht euch alles genau an,
bevor ihr euch entscheidet«, instruierte Max die beiden. Er
wusste, dass Dutzende von Cremetorten und gefüllten Kuchen in
den Schaukästen standen.
    Sobald die beiden
verschwunden waren, erlosch das joviale Lächeln auf seinem
Gesicht. »Hör mir zu, Kraus.« Seine Stimme sank zu
einem Flüstern herab. »Ich weiß, dass du nichts
mit Politik zu tun hast und nur ein Kriminalinspektor bei der
Polizei bist. Aber du dienst der Regierung, und ich weiß,
dass du dort Freunde hast. Also bitte ich dich, ehrlich gesagt, ich
flehe dich an, mir zu versprechen, dass du es mich wissen
lässt, wenn du auch nur die Andeutung einer Information
bekommst, was passieren wird. Es ist nämlich so, dass unser
ganzes Geld in unserem Geschäft steckt. Wenn etwas passieren
würde … also, ich denke dabei an die Jungen. An ihre
Zukunft. Wenn die Zeit gekommen ist, sich zurückzuziehen,
möchte ich es wissen, bevor es zu spät
ist.«
    »Sich
zurückziehen? Was meinst du damit?«
    »Die Firma zu
verkaufen. Meinen Besitz zu liquidieren. Das Geld ins Ausland zu
schaffen.«
    »Warum um alles
in der Welt solltest du das tun?« Kraus spürte einen
Kloß im Hals. »Wir sitzen alle im selben Boot. England,
Frankreich, ja selbst Amerika hat genauso viele Arbeitslose wie
wir.«
    »Aber sie haben
keine Nazis.« Max öffnete weit die Augen. »Wenn es
nun, was Gott verhüten möge, diesen Wahnsinnigen gelingt,
die Macht an sich zu reißen? Denk an das, was sie
versprechen! Wie soll man vernünftige Entscheidungen in einer
solchen Atmosphäre wie dieser hier treffen, wo man nicht
weiß, was der nächste Tag bringen
wird?«
    Kraus respektierte
seinen Schwiegervater sehr, aber er explodierte innerlich vor Wut
und hätte den Mann am liebsten am Revers gepackt und ihn
geschüttelt, bis er wieder zu Verstand kam. Sich
zurückziehen? Was redete er da? Hatte die Furcht jede Logik
erstickt? Sie hatten immerhin noch eine Verfassung, richtig? Eine
Armee. Gesetze. Hatte Max so wenig Vertrauen in Deutschland und in
die Deutschen, seine Volksgenossen, dass er glaubte, sie
würden sich einer Bande von Kriminellen ausliefern? Hatten
Männer wie Kraus im Krieg nur dafür gekämpft,
geblutet und ihr Leben verloren, ein Eisernes Kreuze für
Tapferkeit hinter den französischen Linien verliehen bekommen,
dass Männer wie Max alles einpackten und wegliefen?

ZWEI
    Der Alexanderplatz
– oder Alex – war der große Verkehrsknotenpunkt
von Berlin-Mitte, ein ausgedehnter Platz, der von einem wirren Netz
aus Straßenbahnenschienen durchzogen war, auf dem es von
Fahrzeugen, Fahrrädern und Fußgängern wimmelte und
der von zwei der größten Massenkonsumtempel Berlins
eingerahmt wurde: dem Kaufhaus Wertheim und dem Kaufhaus Tietz.
Unter all dem lag die neue U-Bahn-Haltestelle, an der die
meistgenutzten Untergrundbahnen von Berlin zusammenliefen.
Darüber lag die S-Bahn-Station, von der aus Hochbahnen in die
entlegensten Ecken der Metropole fuhren. Außerdem befand sich
am Alex auch das riesige, uralte Gebäude des
Polizeipräsidiums, das eine ganze Ecke auf der
südöstlichen Seite des Platzes in Beschlag nahm. Das
rußbedeckte Ungetüm war in den achtziger Jahren des 19.
Jahrhunderts erbaut worden und wies sechs Stockwerke und mehrere
kirchenartige Kuppeln auf. Mit Hut und Mantel bereits in der Hand
betrat Kraus das Präsidium pünktlich um acht Uhr morgens
durch Eingang sechs.
    Als Kriminalinspektor
war er der Leiter einer von zahllosen Einheiten der Mordkommission.
Er hatte drei Kriminalbeamte und insgesamt fünfzehn weitere
Beamte unter sich. Und als einziger Jude in der Abteilung –
und praktisch im gesamten Gebäude – hielt er es für
unabdingbar, eine gewisse Distanz zu ihnen allen zu wahren, mit
Ausnahme seiner Sekretärin Ruta und seinem jüngsten
Kriminalanwärter Gunther. Diese beiden behandelte er nicht wie
Untergebene, sondern mehr wie Familienmitglieder.
    »Was
gibt’s Neues, Ruta?«, fragte er die attraktive
Großmutter und Mutter von sechs Kindern, der es trotz der
neuen, längeren Rockmode gelang, den größten Teil
ihrer Beine zu zeigen. Sie behauptete, dass sie vor Jahren eine
Tänzerin im Wintergarten
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