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Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler
Autoren: Paul Grossman
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Ophelia. Es war
eine wunderschöne junge Frau um die fünfundzwanzig. Ihre
alabasterfarbene Haut war aufgequollen, aber noch nicht so weit,
dass es ihre Gesichtszüge entstellte. Sie wirkte jung, frisch
und lebendig, selbst im Tod. Ihre glasigen Augen waren weit
geöffnet, schienen warm und dunkel und reflektierten den
kalten, deutschen Sonnenuntergang. Die Lippen waren zu einem
ruhigen, beinahe triumphalen Lächeln gekräuselt. Als
Kraus sich zu ihr hinunterbeugte, spürte er, wie ein alter,
verkrusteter Hebel sich in seinem Herzen bewegte, und ihn
überkam der Drang, die Arme auszustrecken und das arme Wesen
hochzuheben. Um ihre Schultern lag wie eine Toga ein dünner,
grauer Baumwollkittel, der ihre großen, runden Brüste
entblößte. Kraus bemerkte sofort, dass ihr dunkles Haar
viel zu kurz war … so als wäre sie vor nicht allzu
langer Zeit geschoren worden.
    Aber was ihm wirklich
zusetzte, was ihn traf wie ein Hammerschlag, waren ihre Beine. Sie
waren ausgestreckt wie im Schlaf und wirkten fast
übernatürlich missgestaltet. Er hockte sich an den Rand
des Wassers, das orangerot glühte. Es stank, und er hielt die
Luft an. Ihre Füße waren normal, aber von den Knien
abwärts bis zu den Knöcheln schienen die Knochen …
nach hinten zu weisen. Als hätte jemand eine gigantische Zange
angesetzt und ihr das Wadenbein
herumgedreht.     
    »Wie eine
Meerjungfrau, was?« Schmidt feixte.
    »So haben wir
sie genannt, Herr Inspektor.« Ein anderer Polizist stellte
klar, dass der Witz nicht auf Schmidts Mist gewachsen war. »Fräulein
Wassernixe.«
    »Schon gut. Ist
der Rechtsmediziner schon verständigt
worden?«
    »Jawohl, Herr
Inspektor.« Schmidt salutierte. »Er sollte jeden Moment
eintreffen.«
    »Ich habe so
etwas noch nie gesehen«, erklärte Dr. Ernst Hoffnung
wenige Minuten später, nachdem Schmidt und die anderen Beamten
das arme Mädchen auf die Trage der Ambulanz gehievt
hatten.
    Kraus sah zu, wie der
leitende Rechtsmediziner die Leiche einer ersten, flüchtigen
Untersuchung unterzog.
    »Wundnähte«,
erklärte Dr. Hoffnung entschieden. »Jemand hat sich an
diesen Beinen zu schaffen gemacht. Es ist äußerst
ungewöhnlich. Was das für ein Gefühl ist …
Das will ich nicht einmal aussprechen. Ich muss sie aufmachen und
einen Blick darauf werfen.« Dr. Hoffnung tastete mit seinen
behandschuhten Fingern den ganzen Leichnam ab und schloss mit einer
raschen Untersuchung der Mundhöhle. »Ich weiß noch
nicht genau, was die Todesursache ist, aber eines kann ich Ihnen
jetzt schon sagen: Sie ist mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit keine Deutsche.«
    Kraus hatte schon oft
genug mit Dr. Hoffnung zusammengearbeitet und unterschätzte
die Fähigkeiten des Mannes nicht, aber das kam ihm wie Magie
vor. »Wie kommen Sie darauf?«
    »Alle
Weisheitszähne wurden entfernt. Nicht einmal eines von tausend
deutschen Mädchen könnte sich das
leisten.«
    »Haben Sie eine
Vermutung, woher sie stammt?«
    »Der einzige
Ort, wo man regelmäßig solche Zahnbehandlungen
durchführt, ist Amerika.«
    Kraus blickte
über die breite Wasserstraße, wo die beiden Flüsse
ineinander mündeten. Vom Westen zog Regen heran, der wie ein
silbernes Laken über das dichte Netzwerk aus Inseln und
Flussarmen hinter dem gegenüberliegenden Ufer glitt. Irgendwo
da draußen, dachte er, während ein Dutzend Blicke auf
ihm ruhte, hat diese junge Frau ihren letzten Atemzug
getan.
    »Wer, sagten
Sie, hat das hier gemeldet?« Er wandte sich an
Schmidt.
    »Eine Frau mit
Namen Geschlecht. Sie lebt in dem Haus da drüben.
Kroneburgstraße siebzehn.«
    Er reichte Kraus den
Bericht. Die Handschrift war verschwommen. Oder lag es an
Kraus’ Augen?
    Er konnte den Text
nicht lesen und blickte über die Straße.
    Das Haus war eher eine
Art Hof. Hinter einer hohen, weißen Mauer drängten sich
einige alte Gebäude. Er kniff die Augen zusammen und konnte
ein Schild über der Tür entziffern. INSTITUT FÜR
MODERNES LEBEN. Plötzlich dröhnte ein Donnerschlag durch
seinen Schädel. Ein Gewitter. Die ersten Regentropfen
prasselten herunter. Kraus warf einen Blick auf seine Uhr. Es war
bereits nach sechs. Um sieben hatte er eine Einladung zum Essen,
die er nicht absagen konnte. Er würde morgen früh hierher
zurückkommen müssen.
    Der Regen holte ihn
ein, und als er den Kurfüstendamm erreichte – den
Ku’damm, wie die Einheimischen ihn nannten, Berlins
große Prachtstraße –, steckte sein BMW
hoffnungslos im Verkehr fest. Noch in seiner Kindheit
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