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Schlafwandler

Schlafwandler

Titel: Schlafwandler
Autoren: Paul Grossman
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waren
Motorfahrzeuge selten gewesen, selbst auf dem Ku’damm. Jetzt
kam man trotz der Verkehrszeichen zwischen den Autos, Lastwagen,
Straßenbahnen, Motorrädern und Doppeldeckerbussen zu
Fuß schneller voran als mit einem Fahrzeug. An den
Gebäuden hatte man die Putzornamente, die Schnörkel,
Muscheln und Rosen der Vergangenheit, durch glattes Glas und Stahl
ersetzt. Tausende von Neon-Werbetafeln blitzten an den Fassaden,
ihr Blau und Rot verschwamm im Regen, leuchtete in Pfützen und
faszinierte ihn, als er im Schneckentempo an den Bürgersteigen
vorbeikroch, auf denen sich Menschen drängten, die aus den
Kinopalästen strömten, an überquellenden
Cafés vorbeirollte und an grell beleuchteten
Kaufhausfenstern vorübertrieb. Menschenmassen. Neon.
Lärm. Berlin machte weiter. Wider aller Vernunft.
    Ihm schnürte sich
wie immer die Kehle zu, als er am Joachimsthaler Platz vorbeifuhr,
wo Vicki ums Leben gekommen war. Eines Morgens war ein Lastwagen
über den Bürgersteig geschleudert und in das Fenster des
Cafés gekracht, in dem sie gesessen hatte. Ein Glassplitter
hatte ihre Hauptschlagader durchtrennt. Zwei Jahre war das her, und
der Schmerz war kaum geringer geworden. Allein der Gedanke an
Stefan und Erich, die ein paar Häuserzeilen weiter auf ihn
warteten, heiterte ihn auf.
    Er hatte sich eine
gute halbe Stunde verspätet, als er schließlich
das Café
Strauß betrat. Es war ein kolossales
Etablissement auf der Tauentzienstraße, in dem scheinbar
Hunderte von weißbehandschuhten Kellnern herumliefen. Doch
die Jungs erspähten ihn selbst durch den gut gefüllten
Speisesaal und schrien sofort los: » Vati! Vati! Hier
drüben!« Kraus sah, dass ihre matronenhafte, mit Hut und
in schwarzem Kostüm gekleidete Großmutter, Frau
Gottmann, den beiden einen finsteren Blick zuwarf, weil sie die
Aufmerksamkeit der anderen Gäste auf sich zogen. Dann richtete
sie ihren missbilligenden Blick auf ihn, weil er zu spät kam.
Aber der achtjährige Stefan und der zehnjährige Erich
ließen sich nie durch die Etikette einschüchtern,
sprangen von ihren Stühlen auf, die Servietten noch in ihre
Hemdkragen gesteckt, und stürzten sich in seine
Arme.
    Nach Vickis Tod waren
er und die Gottmanns übereingekommen, dass es für die
Jungs besser war, wenn sie nach Dahlem kamen und bei ihnen lebten.
Sie besaßen eine geräumige Villa mit einem großen
Garten, und Vickis jüngere Schwester Ava konnte sich um die
beiden kümmern, während sie zu Ende studierte.
Wundersamerweise hatte dieses Arrangement funktioniert. Die Jungs
gediehen prächtig. Und die Zauberkünstlerin war Ava. Er
sah, wie sie strahlend das Glück der Jungs beobachtete, als
sie ihn umarmten. Er hatte schon immer gefunden, dass Ava Vicki
sehr ähnlich sah, auch wenn sie eine etwas nüchternere
Ausgabe von ihr war. Aber ihre Liebe zu den Kindern verstärkte
diese Ähnlichkeit noch.
    Als sich Kraus
zwischen die Jungs setzte, die ihre kleinen Arme durch seine
geschoben hatten, rückte Frau Gottmann ihren schwarzen,
federgeschmückten Hut zurecht. Sie war eine Schönheit,
eine ehemalige Schauspielerin aus Wien, und verfügte über
ein umfassendes Repertoire von subtilen, gefühlsbetonten
Ausdrucksformen. »Du wusstest natürlich, dass das Essen
für sieben Uhr angesetzt war.« Schuldgefühle zu
erzeugen war eine ihrer Spezialitäten.
    Normalerweise fand das
Sonntagsessen in ihrem Haus statt, und hin und wieder kam er zu
spät. Gut, es war eine weite Fahrt von der Stadt dorthin. Sie
vergaben ihm. Aber heute waren die Gottmanns mit den Jungs in die
Stadt gekommen, um sich das Ischtar-Tor anzusehen. Also sah Frau
Gottmann keinen Grund für Kraus’ Verspätung, da er
nur ein paar Minuten Fußweg von dem Restaurant entfernt
wohnte.
    »Wenn du es
unbedingt wissen musst«, erwiderte er gereizter, als er
beabsichtigt hatte, »der Grund für meine Verspätung
war Polizeiarbeit. Die Leiche einer jungen Frau in der
Havel.«
    Seine Schwiegermutter
weitete entsetzt die Augen. Dass er so etwas vor den Kindern zu
sagen wagte! Aber es waren nicht seine Kinder, die sich an seiner
Arbeit störten, das wusste Kraus. Als sie anfing, mit ihrer
Perlenkette herumzuspielen, griff er über den Tisch und
drückte ihre Hand, was ihm ein schwaches Lächeln
einbrachte. Immerhin hatten sie beide Vicki verloren. Und sie beide
lebten in einem Deutschland, das für Menschen wie sie mit
jeder Woche schlimmer wurde.
    Für die Gottmanns
wie für die meisten deutschen Juden, auch für seine
eigenen Eltern, wenn
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