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Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Titel: Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
Autoren: Barry Hughart
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1.
Das Dorf Ku-fu
     
    Ich falte die Hände und verneige mich in alle Himmelsrichtungen. Ich heiße Lu, und mein Vorname ist Yu, aber man darf mich nicht mit dem bedeutenden Verfasser von Das Buch vom Tee verwechseln. Meine Familie ist völlig unbedeutend, und da ich der zehnte Sohn meines Vaters und sehr stark bin, nennt man mich im allgemeinen Nummer Zehn der Ochse. Als ich acht war, starb mein Vater. Ein Jahr später folgte ihm meine Mutter zu den Gelben Quellen unter der Erde. Seit dieser Zeit lebe ich bei Onkel Nung und Tante Hua in dem Dorf Ku-fu im Tal Cho. Wir sind sehr stolz auf unsere Wahrzeichen. Bis vor kurzem waren wir auch sehr stolz auf zwei Herren; es waren so einmalige Exemplare ihrer Art, daß Menschen von nah und fern herbeikamen, nur um sie anzuschauen. Vielleicht sollte ich eine Beschreibung meines Dorfs deshalb mit ein paar Geschichten beginnen.
    Als Pfandleiher Fang zu Ma der Made mit dem Vorschlag kam, sich zusammenzutun, eröffnete er die Verhandlungen damit, daß er Mas Frau einen kleinen, auf billigem Papier gezeichneten Fisch schenkte. Mas Frau nahm das großartige Geschenk entgegen, streckte die rechte Hand aus und machte mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis. In diesem Augenblick flog die Tür auf. Ma die Made stürmte herein und schrie: »Frau, willst du mich ruinieren? Ein halber Kuchen hätte es auch getan!«
    Vielleicht entspricht das nicht ganz den Tatsachen, doch der Abt unseres Klosters sagt immer, auf der breiten Schulter der Fabel liegt mehr Wahrheit als in Tatsachen.
    Pfandleiher Fang erriet immer unfehlbar den niedrigsten Preis, wenn jemand etwas verpfänden wollte. Ich dachte, das sei eine übernatürliche Gabe. Doch der Abt nahm mich beiseite und erklärte mir, daß sich Fang keineswegs auf seine Eingebung verließ. Auf seinem Tisch in dem vorderen Raum des Warenlagers von Ma der Made lag immer ein glatter, glänzender Gegenstand, in dem sich die Augen der Opfer spiegelten.
    »Wertlos, völlig wertlos«, rief Fang wegwerfend und nahm den Gegenstand in die Hand, »nicht mehr wert als zweihundert in bar.«
    Sein Blick richtete sich auf den glänzenden Gegenstand, und wenn die Pupillen der darin gespiegelten Augen sich zu sehr verengten, bot er mehr.
    »Nun ja, in seiner derben Bauernart ist es handwerklich gar nicht so schlecht. Sagen wir... zweihundertfünfzig.«
    Die gespiegelten Pupillen weiteten sich, aber vielleicht nicht genug.
    »Heute jährt sich der Tag, an dem meine arme Frau dahingeschieden ist, und der Gedanke daran trübt immer mein Urteilsvermögen«, jammerte Fang mit tränenerstickter Stimme, »dreihundert in bar, aber keinen Pfennig mehr!«
    Natürlich wechselte kein Geld den Besitzer, denn bei uns herrscht Tauschwirtschaft. Das Opfer ging mit einem Gutschein durch die Tür ins Warenlager. Ma die Made starrte den Gutschein ungläubig an und schrie dann in Richtung Fang: »Du Wahnsinniger! Deine krankhafte Großzügigkeit treibt uns noch in den Bankrott! Wer soll die Mäuler deiner hungrigen Brut stopfen, wenn wir nur noch in Lumpen und mit der Bettelschale herumlaufen?« Dann löste er den Gutschein gegen Waren ein, die um sechshundert Prozent überteuert waren.
    Pfandleiher Fang war ein Witwer mit zwei Kindern, eine hübsche Tochter, die wir Fangs Reh und einen jüngeren Sohn, den wir Fangs Floh nannten. Ma die Made war kinderlos. Als seine Frau mit einem Hausierer durchbrannte, verringerten sich seine Ausgaben um die Hälfte, und sein Glück verdoppelte sich. Doch am glücklichsten war das Gespann Ma und Fang zur Zeit der jährlichen Seidenernte, denn Seidenspinnereier konnten nur für Geld erstanden werden. Aber nur Ma und Fang besaßen Geld. Ma die Made kaufte die Eier und verteilte sie an die einzelnen Familien gegen Schuldscheine, die mit Seide eingelöst wurden. Pfandleiher Fang war der einzige anerkannte Seidentaxierer im Umkreis; bei diesem Geschäft konnten sie zwei Drittel unserer Ernte nach Peking bringen und mit prallgefüllten Säcken voller Münzen zurückkehren, die sie in mondlosen Nächten in ihren Gärten vergruben.
    Der Abt pflegte zu sagen: »Das emotionale Wohlergehen eines Dorfes hängt davon ab, daß es einen Menschen gibt, den alle aus vollem Herzen hassen... Und der Himmel hat uns sogar mit zweien gesegnet.«
    Die Wahrzeichen von Ku-fu sind unser See und unsere Mauer; See und Mauer verdanken den Märchen und dem Aberglauben aus alter Zeit ihren Ruf. Als unsere Ahnen in das Tal Cho kamen, untersuchten sie das Gelände mit größter
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