Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schneesturm

Der Schneesturm

Titel: Der Schneesturm
Autoren: Vladimir Sorokin
Vom Netzwerk:
Inhalt
    Ein Toter legt sich schlafen
    Aufs kahle, weiße Bett.
    Vorm Fenster Schneegestöber,
    So friedlich, still und nett …
    ALEXANDER BLOK
    »Verstehen Sie denn nicht, ich muss da unbedingt hin!«, rief Doktor Garin mit zorniger Geste. »Patienten warten auf mich. Kranke Menschen! Dort herrscht eine Epidemie! Sagt Ihnen das Wort etwas?«
    »Selbstverständlich verstehe ich Sie, Verehrtester, wie könnte ich nicht?«, erwiderte der Stationsvorsteher, den Oberkörper servil vornübergebeugt, die Fäuste gegen das Wams aus Dachspelz gepresst. »Sie müssen dahin, das verstehe ich gut. Die Sache ist nur: Ich habe keine Pferde und kriege vor morgen auch keine mehr rein!«
    »Keine Pferde, wie kann das sein?«, empörte sich Garin. »Was soll eine Station ohne Pferde für einen Sinn haben?«
    »Sie ist zum Ausleihen von Pferden da, und momentan sind alle ausgeliehen. Alle!«, wiederholte der Stationsvorsteher so laut, als spräche er mit einem Schwerhörigen. »Vielleicht schickt der Himmel uns am Abend noch eine Postkutsche. Aber das kann man nie wissen!«

    Garin nahm den Kneifer ab und schaute den Stationsvorsteher an, als sähe er ihn gerade zum ersten Mal.
    »Dass da Menschen im Sterben liegen, ist Ihnen hoffentlich klar, mein Lieber?«, fragte er.
    Der Stationsvorsteher löste die Fäuste und streckte die Hände offen dem Doktor entgegen, so als bäte er um Almosen.
    »Wie sollte mir das nicht klar sein? Natürlich ist mir das klar. Ehrbare, fromme Leutchen rafft es dahin, das ist ein Trauerspiel, jawohl! Aber schauen Sie doch mal aus dem Fenster, was draußen los ist!«
    Garin setzte den Kneifer wieder auf und richtete den Blick seiner geschwollenen Augen mechanisch zum Fenster, durch dessen Eisblumen kaum etwas zu erkennen war: ein trüber Wintertag, weiter nichts.
    Der Doktor sah zur laut tickenden Wanduhr in Form eines Baba-Jaga-Hexenhäuschens. Sie zeigte Viertel nach zwei.
    »Es geht schon auf drei!«, rief er und schüttelte missmutig sein kräftiges, kurz geschorenes, an den Schläfen leicht ergrautes Haupt. »Drei! Es wird bald wieder dunkel, begreifst du das?«
    »Ei freilich, wie sollte ich nicht, allerdings …«, setzte der Stationsvorsteher zu einer neuen Litanei an, doch der Doktor fiel ihm schroff ins Wort.
    »Pass mal auf, Alter. Es ist mir egal, wo du die Pferde hernimmst, grab sie aus wegen mir! Wenn ich dort heute nicht mehr hinkomme, bringe ich dich vor Gericht. Wegen Sabotage!«
    Das Wort, von Staats wegen bekannt, wirkte auf den Stationsvorsteher offenbar einschläfernd. Er hörte auf zu salbadern und schien wegzunicken. Seine hüftlahme Gestalt in dem kurzen Wams, den Plüschhosen und den hohen weißen, mit gelbem Leder abgesetzten Filzstiefelnerstarrte im Halbdunkel der geräumigen, überheizten Wohnstube. Dafür regte sich seine Frau, die bis dahin still mit ihrem Strickzeug hinter einem Kattunvorhang gesessen hatte; ihr breites, ausdrucksloses Gesicht, das anzuschauen der Doktor nach den zwei Stunden, die er hier versessen, Tee zu Himbeer- und Pflaumenkonfitüre getrunken und in einer Ausgabe der Niwa vom vorigen Jahr geblättert hatte, bereits leid war, lugte um die Ecke.
    »Ob wir den Krächz fragen oder was meinst, Michalytsch?«
    Der Stationsvorsteher kam umgehend zu sich.
    »Den Krächz fragen, das ginge auch«, erwiderte er, der Frau halb zugewandt, während er sich bedächtig mit der rechten Hand den linken Arm kratzte. »Aber es sollen ja amtliche Pferde sein.«
    »Das ist mir egal, was für welche«, rief der Doktor. »Hauptsache Pferde! Pferde! Pfeer-dee!«
    Der Stationsvorsteher schlurfte zum Stehpult.
    »Falls er nicht beim Oheim in Choprowo ist, könnte man ihn fragen …«
    Beim Stehpult angekommen, nahm er den Hörer von der Telefongabel, drehte ein paarmal die Kurbel, richtete sich auf und reckte, die Linke in die Hüfte gestützt, seinen Glatzkopf, so als wollte er in diesem Moment über sich hinauswachsen.
    »Grüß dich, Mikolai Lukitsch. Michalytsch am Apparat. Sag mal, unser Brotkutscher ist nicht zufällig bei euch? Nein? Na dann ist ja gut. Nein, klar, wie sollte er. Bei dem Wetter, das ist ja nicht die Möglichkeit. Also dann, ich danke schön.«
    Er legte den Hörer behutsam auf die Gabel und kam zurück zum Doktor geschlurft. In seinem Gesicht – von unbestimmbarem Alter, das fliehende Kinn nachlässig rasiert – schien etwas zum Leben erwacht.

    »Sieht so aus, als wäre unser Krächz nicht nach Choprowo gefahren. Dann ist er zu Hause und liegt auf dem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher