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Schlaf Nicht, Wenn Es Dunkel Wird

Titel: Schlaf Nicht, Wenn Es Dunkel Wird
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zunächst langsam und mit erkennbarer Anstrengung, als versuchte sie, den Worten auf der Spur zu bleiben, die sich lallend miteinander verschliffen. »Ich hatte schon eine ganze Weile erfolglos nach dir gesucht. Dann beschloss ich, einen Privatdetektiv zu engagieren. Mit dem ersten hat es nicht geklappt, also habe ich mich an einen anderen gewandt. Er fand heraus, dass du in einem Krankenhaus in Delray arbeitest. Also bin ich hergekommen, um dich mit eigenen Augen zu sehen. Dabei habe ich deine Notiz am Schwarzen Brett entdeckt. Ich konnte mein Glück gar nicht fassen. Ich habe mir die Geschichte mit Rita Bishop ausgedacht. Ich dachte, das würde uns Gelegenheit geben, uns kennen zu lernen, bevor …«
    »Bevor was?«
    »Bevor ich es dir sage.«
    »Was wolltest du mir sagen, Herrgott noch mal?«
    »Du weißt es nicht?«
    »Was soll ich wissen?«
    »Das verstehe ich nicht. Du hast doch gesagt, du hättest mein Tagebuch gelesen.«
    »Was soll ich wissen?«, wiederholte ich mit einem Grollen in der Stimme wie von einer heranrollenden Welle.
    Sie suchte meinen Blick und sah mir plötzlich hellwach in die Augen, als würde sie mich zum ersten Mal sehen. »Dass du meine Mutter bist.«

    Einen Moment lang wusste ich nicht, ob ich lachen oder weinen sollte, also tat ich beides, doch der abgewürgte Laut, der über meine Lippen drang, klang selbst in meinen Ohren fremd. Ich sprang auf und begann vor ihr auf und ab zu laufen. »Was redest du da? Das ist unmöglich. Was soll das heißen?«
    »Ich bin deine Tochter«, sagte sie mit frischen Tränen in den Augen.
    »Du bist verrückt! Deine Mutter lebt in Chicago.«
    »Ich bin nicht aus Chicago. Ich bin aus Baltimore. Genau wie du.«
    »Du lügst!«
    »Ich wurde als Säugling von John und Carole Sinukoff adoptiert. Kanntest du sie?«
    Ich schüttelte heftig den Kopf, während in meinem Kopf stroboskopartig Bilder wie aus weiter Ferne aufflackerten. Ich schirmte die Augen ab und versuchte, die unerwünschten Erinnerungen in Schach zu halten.
    »Sie hatten schon einen Sohn, konnten keine weiteren Kinder bekommen und wünschten sich eine Tochter, also haben sie mich ausgesucht. Ein Fehler«, gab sie zu und leckte sich die Lippen. »Ich war ein schreckliches Kind. Ziemlich genauso, wie ich es dir erzählt habe. Ich hatte nie das Gefühl dazuzugehören. Ich war anders als alle anderen. Und dass mein perfekter älterer Bruder mich ständig daran erinnert hat, dass ich eigentlich gar nicht zur Familie gehöre, hat bestimmt auch nicht geholfen. Einmal ist er Weihnachten vom Brown College nach Hause gekommen und hat mir erzählt, dass meine leibliche Mutter ein vierzehnjähriges Flittchen war, das die Beine nicht zusammenhalten konnte.«
    »O Gott.«
    »Ich habe ihn dorthin getreten, wo es richtig wehtut. Danach hatte er jedenfalls bestimmt keine Probleme mehr, die
Beine zusammenzuhalten.« Sie versuchte zu lachen, verzog jedoch nur das Gesicht vor Schmerzen.
    »Aber was du da sagst, ist unmöglich«, erklärte ich ihr, während sich vor meinen Augen genauso alles drehte wie vermutlich vor ihren. Bilder aus der Vergangenheit schlüpften zwischen jahrzehntealten Verteidigungswällen hindurch und prasselten auf mich ein: Roger Stillman, der auf dem Rücksitz seines Wagens unbeholfen in mich eindrang; der panische Blick, mit dem ich danach jeden Tag meine Unterwäsche auf Anzeichen meiner Periode untersuchte, die hartnäckig ausblieb, während mein kindlicher Bauch sich Tag für Tag weiter ausdehnte, egal wie weite Kleidung ich trug. »Es ist unmöglich«, wiederholte ich entschlossener und versuchte vergeblich, die Bilder abzuwehren. »Rechne doch mal nach. Ich bin vierzig. Du bist achtundzwanzig. Dann müsste ich ja zwölf -«
    »Ich bin nicht achtundzwanzig, sondern fünfundzwanzig. Ich werde sechsundzwanzig …«
    Am 9. Februar, sagte ich stumm, während sie die Worte laut aussprach. Ich hielt mir mit beiden Händen die Ohren zu, um ihre Stimme nicht mehr zu hören. Wann war sie so laut und kräftig geworden?
    »Ich hatte Angst, dass du alles erraten würdest, bevor du Gelegenheit hattest, mich kennen zu lernen, wenn ich dir mein wahres Alter sagen würde. Und ich wusste nicht, wie du es finden würdest, mich wieder in deinem Leben zu haben. Ich wollte so sehr, dass du mich magst. Nein, das ist eine Lüge«, verbesserte sie sich. »Ich wollte mehr als das. Ich wollte, dass du mich liebst . Damit du mich nicht noch einmal verlassen könntest.«
    Ich ließ mich auf den Stuhl zurücksinken.
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