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Schlaf Nicht, Wenn Es Dunkel Wird

Titel: Schlaf Nicht, Wenn Es Dunkel Wird
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erfüllten den Raum wie das Getöse eines drittklassigen Orchesters, während K.C. auf Zehenspitzen und mit ausgestreckten Armen auf mich zukam, als wollte er mich zu einem letzten Walzer auffordern. Ich lehnte seine stumme Einladung ab, machte einen Schritt zurück, und er fiel nach vorn, während sein ungläubiger Blick angesichts des nahenden Todes glasig wurde. Er verfehlte den Weihnachtsbaumständer nur knapp, als er mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug.
    Erst nach ein paar Sekunden merkte ich, dass Alison aufgehört hatte zu schreien und nicht mehr achtlos auf dem Boden lag, sondern irgendwie all ihre verbliebenen Kräfte gesammelt und einen verzweifelten Ausfall zur Haustür versucht hatte. Dass sie es sogar geschafft hatte, sie zu öffnen, und die ersten Stufen hinuntergegangen war, zeugte von ihrer bewundernswerten Willenskraft und Entschlossenheit.

    Der Lebenswille des Menschen ist schon etwas Erstaunliches.
    Mir fiel ein, dass ich bei Myra Wylie Ähnliches gedacht hatte. Nur Erica Hollander war leise abgetreten und wenige Minuten nach dem Mitternachtsimbiss, den ich ihr bereitet hatte, friedlich eingedöst. Als ich ihr hinterher das Kissen aufs Gesicht gedrückt hatte, war ich nur noch auf symbolischen Widerstand gestoßen.
    »Nein!«, schrie Alison, als ich ihren Arm packte.
    »Alison, bitte. Mach keine Szene.«
    »Nein! Rühr mich nicht an! Lass mich in Ruhe!«
    »Komm wieder rein, Alison.« Ich fasste ihren Ellenbogen und grub meine Finger in ihre Haut.
    »Nein!«, kreischte sie erneut und riss sich so heftig los, dass ich das Gleichgewicht verlor. Sie schaffte es halb bis auf die Straße, bevor ihre Beine schlicht einknickten und sie wie die sprichwörtliche Marionette in sich zusammensackte. Doch sie weigerte sich nach wie vor aufzugeben und kroch auf allen vieren Richtung Bürgersteig weiter.
    Im selben Moment hörte ich ein Bellen, gefolgt vom Klappern hoher Absätze auf dem Bürgersteig. Bettye McCoy und ihre beiden verrückten Köter, dachte ich und versuchte, Alison auf die Füße zu helfen.
    »Hilfe!«, rief Alison, als die dritte Mrs. McCoy in einer Capri-Hose mit Leopardenmuster um die Ecke gewackelt kam. »Hilfe!«
    Doch das wütende Gekläff der Hunde übertönte Alisons Rufen.
    »Alles in Ordnung«, erklärte ich der alternden Alice im Wunderland. »Sie hat nur ein bisschen zu viel getrunken.«
    Bettye McCoy warf verächtlich ihre auftoupierte blonde Mähne über die Schulter, nahm ihre beiden Hunde unter den Arm, überquerte die Straße und stöckelte energisch in die andere Richtung davon.

    »Nein, bitte!«, rief Alison ihr nach. »Sie müssen mir helfen! Hilfe!«
    »Du musst deinen Rausch gründlich ausschlafen«, sagte ich laut für den Fall, dass irgendwer uns gehört hatte.
    »Bitte«, flehte Alison die nun wieder leere Straße an. »Bitte, gehen Sie nicht.«
    »Ich bin bei dir, mein Schatz«, erklärte ich ihr, nahm sie in den Arm und führte sie zum Haus. »Ich gehe nirgendwohin.«
    An der Haustür hörte sie auf, sich zu wehren. Ich weiß nicht, ob es die Medikamente waren oder die Erkenntnis, dass aller Widerstand zwecklos war. Sie seufzte nur und sank schlaff in meine Arme. Ich trug sie über die Schwelle wie ein frisch vermählter Ehemann seine Braut.
    Tut man das heutzutage noch? Ich weiß es nicht. Ich bezweifle, dass ich es je erfahren werde. Für mich ist es viel zu spät, genau wie für Alison. Und das ist schade, weil ich, glaube ich, eine gute Ehefrau gewesen wäre. Das ist alles, was ich immer wollte. Jemanden lieben, der mich wieder liebt, ein Nest bauen, eine Familie gründen. Und ein Kind, dass ich mit all der Zärtlichkeit verwöhnen konnte, die mir versagt geblieben ist. Eine Tochter.
    Ich hatte mir immer eine Tochter gewünscht.
    Ich trug Alison zum Sofa und wiegte sie sanft in meinen Armen. » Tu-ra-lu-ra-lu-ra-lu «, sang ich zärtlich. » Tu-ra-lu-ra-lu …«
    Alison hob langsam den Blick und öffnete den Mund. Ein Flüstern erfüllte die Luft. Ich glaube, ich habe das Wort Mami gehört.

29
     
     
    Natürlich glaube ich keine Minute lang, dass Alison mein Kind war.
    Wahrscheinlich hat sie bei Sinukoffs davon gehört, wie ich meiner Familie Schande bereitet habe. Der Name klingt vage vertraut. Vielleicht waren es Nachbarn. Vielleicht auch nicht. Baltimore ist eine große Stadt. Man kann nicht jeden kennen, auch wenn meine Mutter immer behauptete, dass die ganze Stadt von meinem Zustand wüsste und sie zum Gespött der Leute geworden wäre, sodass sie sich gar
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