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Apollofalter

Apollofalter

Titel: Apollofalter
Autoren: Gmeiner-Verlag
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Prolog
     
    Nun komm endlich! Komm!
    Seine Augen brannten vom angestrengten Schauen. Eine kleine Ewigkeit stand er schon hier, und dort drüben bewegte sich immer noch nichts. Ungeduldig trommelte er mit den Fingerkuppen auf die Kante des Fensterbretts. Ein Stück des gelblich gewordenen Lacks splitterte ab und segelte auf den Boden. Das Trommeln wurde lauter und ging in ein Geräusch über, das sich anhörte, als tripple sein Kanarienvogel über den Holztisch. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, die sich trocken und rissig anfühlten.
    Melisande, wo bleibst du denn?
    Im Nachbarhaus waren neue Mieter eingezogen, eine Mutter und ihre kleine Tochter. Von hier aus konnte er direkt in das Mädchenzimmer sehen.
    »Andreas«, rief seine Mutter von unten. »Kommst du?«
    »Gleich«, rief er zurück und rührte sich nicht von der Stelle. Es war bereits dunkel draußen. Schon so oft hatte er hier gestanden und gewartet. Manchmal hatte er Glück und er konnte einen Blick auf Melisande werfen.
    Drüben flammte Licht auf. Sein Herz begann schneller zu klopfen. Ein Schatten huschte an der Wand entlang. Da war sie! Sein Atem ging rascher. Melisande war tatsächlich in ihr Zimmer gekommen. Mit weit geöffneten Augen starrte er in das hell erleuchtete Rechteck des Fensters. Seine Nasenflügel bebten. Seine Hand tastete nach dem Fernglas. Er versuchte, sich so wenig wie möglich zu bewegen. Jegliche Aufmerksamkeit wollte er vermeiden.
    Fest krampften sich seine Hände um die geriffelte Plastikoberfläche des Fernglases, während sein Blick suchend umherirrte. Endlich hatte er sie eingefangen. Ihre Silhouette zeichnete sich scharf vor dem Hintergrund des Mädchenzimmers ab. Sie trug die Haare zu einem lockeren Knoten gedreht auf dem Hinterkopf. Ein paar dünne Strähnen hatten sich gelöst und hingen ihr ins Gesicht. Gebannt sah er auf das wunderschöne Geschöpf dort drüben, das zum Greifen nah schien. Zwölf Jahre war sie alt. Er flüsterte ihren Namen. Melisande. Leicht flatternde Silben. Melisande, ein Name wie ein Engel, der geradewegs vom Himmel auf die Erde herabschwebt.
    Er beobachtete, wie sie sich an den Schreibtisch setzte, ein Heft in die Hand nahm und darin blätterte. Wahrscheinlich machte sie Hausaufgaben. Wie sie den Kopf geneigt hielt, so anmutig, erinnerte sie ihn an eine Primaballerina. Sie hob die Arme und löste ihr Haar, das ihre Schultern berührte. Das Licht ihrer Schreibtischlampe fiel darauf und ließ es an den Rändern rötlich leuchten. Es sah aus wie ein Glorienschein.
    Ganz fest hielt er sie mit seinem Blick. In seinen Händen. Seine Augen hinter den gläsernen Linsen wanderten ihr Profil entlang, tasteten über die Linie der kleinen Nase, umschmeichelten das Oval ihres kindlichen Gesichts. Mit einer beiläufigen Bewegung strich sie sich die Haare hinters Ohr und gähnte, wie ein Kätzchen, ohne die Hand vor den Mund zu halten. Ein Lichtstrahl verfing sich in ihrem Ohrläppchen, in dem ein winziger goldener Ohrring steckte.
    Hinten an der Wand stand ihr Bett. Es war aufgedeckt. Ein paar Plüschtiere saßen auf dem Kopfkissen. Eine Katze, ein Löwe und ein weißer Teddy mit dunklen Knopfaugen und einer roten Schleife um den Hals.
    Er ließ das Fernglas sinken und grub die Zähne in die aufgesprungenen Lippen. Er stellte sich vor, wie sie seinen Namen sagte. Mit ihrer hellen, mädchenhaften Stimme.
    Jetzt stand sie auf, trat ans Fenster und öffnete es. Unwillkürlich ging er einen Schritt zur Seite, versteckte sich hinter dem Vorhang. Er wollte auf keinen Fall, dass sie ihn bemerke. »Spanner!«, hörte er sie bereits verächtlich sagen. »Du kommst dir wohl besonders toll vor mit deinem Fernglas in der Hand?«
    Er merkte, wie sein Körper zu zittern begann. Schnell kniff er die Lider zusammen und rief sich ein anderes Bild in Erinnerung. Ein schöneres, angenehmeres. Er sah sich dabei zu, wie seine Hände durch ihr Haar glitten, das sich anfühlte wie Seide. Zimtfarbene Seide. Er roch ihren Duft nach Vanille und Honig. Ihre Haut war zart wie eine Aprikose. Und ihr Mund eine Himbeere. Eine reife Himbeere, die er mit den Lippen pflücken durfte.
    Sein Herz pochte lauter, während seine Hände die Oberschenkel entlang streiften und zwischen die Beine drängten. Als er die Augen wieder öffnete und vorsichtig durch den Vorhangspalt hindurchlugte, war sie gerade dabei, sich auszuziehen.
    Er konnte sein Glück kaum fassen. Schnell griff er wieder nach dem Fernglas. Hielt es erneut vor die
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