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Die Attentaeter von Luna City

Die Attentaeter von Luna City

Titel: Die Attentaeter von Luna City
Autoren: Marc A. Herren
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Prolog
     
    Der Wind wehte müden Regen gegen das Glassit der Panoramascheibe. In lang gezogenen Schlieren rann er herunter, bis er vom Reinigungsfeld erfasst und der Wasserversorgung des Solaren Hauses zugeführt wurde.
    Man schrieb den Morgen des 14. Juli 1415 NGZ. Seit dem überraschenden Auftauchen der Onryonen im Solsystem waren drei Wochen vergangen, und Cai Cheung war müde, sehr müde.
    Sie blinzelte, rieb über ihr fast fiebrig heißes Gesicht.
    Sie hatte mit ihren Kräften Raubbau getrieben. Die Kurzschlaf-Induktoren halfen über zwei, drei Tage hinweg, aber nicht über vier oder gar fünf. Zumindest nicht ohne Zellaktivator. Aber wer wollte schon unsterblich sein? Unsterblichkeit war für die Helden, die Besonderen, die Würden- und Bürdenträger – nicht für normale Menschen.
    Müde schüttelte die Solare Premier den Kopf.
    Der Schlafentzug brach ihre Konzentration immer wieder. Da saß sie an ihrem Schreibtisch im Solaren Haus, starrte mit brennenden Augen auf die Holos, deren Informationsgehalt sich scheinbar immer schneller erneuerte, und hatte zusehends das Gefühl, unproduktiv zu sein.
    »Du solltest dich schlafen legen«, murmelte sie. »Ein paar Stunden. Dann hast du die Sache wieder im Griff.«
    »Soll ich dein Schlafzimmer vorbereiten?«, fragte der Servo mit sanfter Stimme. »Musik, erhöhter Sauerstoffgehalt, Entspannungsessenzen?«
    Cai Cheung gähnte verhalten. Der Servo folgte zwar nur seiner Grundprogrammierung, aber er hatte recht. Ihre Privatwohnung lag wenige Gleiterminuten entfernt, aber in der kleinen Schlaf- und Erfrischungskammer, die gleich an das Arbeitszimmer angrenzte, würde sie sich ohne weitere Verzögerung erholen können.
    »Ja bitte. Und lass mir ein Bad ein. Heiß, mit venusischem Minzöl versetzt.«
    »Wird gemacht.«
    Die terranische Regierungschefin blickte aus dem Fenster. Das Solare Haus war mit seiner Kantenlänge von 160 Metern um einiges kleiner als die umliegenden Bauwerke. Normalerweise sah sie in deren spiegelnden Fassaden das Bild der Holoelemente, mit denen der Regierungssitz verkleidet war. Aber an diesem grauen, leicht nebligen Morgen erschien selbst das stolze Solare Haus wie ein dumpfer Klotz.
    Cai Cheung seufzte. Sie überprüfte ein letztes Mal die Befehle an die Wachflotte und übermittelte sie an OTHERWISE. Die leistungsstarke Biopositronik würde sie aufschlüsseln und an die zuständigen Kommandanten weitergeben. Dann veränderte sie ihren Anwesenheitsstatus in »Regeneration«, desaktivierte die Holos, ordnete die herumliegenden Folien und erhob sich.
    Auf dem Weg in ihre Schlafkammer blieb sie vor dem Goban aus dunklem Kirschholz stehen und blickte nachdenklich auf die ausgelegten schwarzen und weißen Go-Steine. Sie hatte sich angewöhnt, vor dem Verlassen ihres Arbeitszimmers mindestens einmal gegen den Automaten zu spielen. Ihre Partie, die Ausgangslage, die sie immer wieder in Angriff nahm.
    Sollte sie? Vielleicht würde ihr aktueller Zustand sie zu einem völlig neuen Spielverlauf führen?
    Mit zitternden Fingern ergriff Cai Cheung einen Spielstein. Die Schnittpunkte der scharfen schwarzen Linien stachen ihr wie kleine Fadenkreuze entgegen. Die Augen verschleierten sich.
    Eine der Legenden zur Entstehung des uralten Brettspiels erzählte vom mythischen Urkaiser Yao, der das Spiel als Unterrichtswerkzeug für seinen Sohn Shun entwickelt hatte. Mit ihm sollte sein designierter Nachfolger Disziplin, Konzentration und geistige Balance lernen. Wenn man der chinesischen Mythologie Glauben schenken wollte, zeitigte die Schulung durchaus Erfolg: Shun ging als Reformer und gerechter Kaiser in die mythischen Annalen ein.
    Go simulierte zwei Kriegsherren, die abwechselnd versuchten, durch geschicktes Setzen ihrer Truppen ein zuvor neutrales Gebiet einzunehmen. Wer am Ende größere Flächen des Feldes umranden und eventuell gegnerische Steine einschließen konnte, gewann das Spiel. Im Gegensatz zum arkonidischen Garrabo oder dem terranischen Schach ging es nicht darum, den Gegner zu vernichten.
    Dieser Aspekt und die Komplexität des Spieles führten dazu, dass beim Go nicht einzig und allein die Sieg bringende Strategie im Zentrum stand. Die geistigen Herausforderungen des Spiels hatten eine geradezu meditative Wirkung auf Cai. Sie wirkten nicht nur als Spiegelbild ihrer aktuellen geistigen Verfassung, sondern auch ihrer ganzen Persönlichkeit.
    Die Solare Premier blinzelte angestrengt. Die weißen und schwarzen Steine verschoben sich
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