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Schilf

Schilf

Titel: Schilf
Autoren: Juli Zeh
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linken Wade. Das Fenster steht offen. Von draußen weht Sommerluft herein, erfüllt vom Geruch nach heißem Asphalt, nach fließendem Wasser und einem Wind, der hoch am Himmel mit Schwalben jongliert. Im satten Licht gehört Maike mehr denn je zu der Sorte Frau, die ein Mann aufs Pferd ziehen will, um mit ihr in den Sonnenuntergang zu reiten. Sie ist apart auf eine Weise, die einen zweiten Blick verträgt. Ihre Haut ist noch heller als Sebastians und ihr Mund ganz leicht schief, so dass sie beim Lachen ein wenig nachdenklich aussieht. Der Erfolg der kleinen Galerie für Moderne Kunst , die sie in der Innenstadt betreibt, verdankt sich nicht zuletzt ihrer Erscheinung; den Künstlern ist sie Managerin und manchmal Modell. Maikes Sinn für Ästhetik neigt zum Religiösen. Sie leidet in lieblos eingerichteten Räumen und kann kein Glas auf den Tisch stellen, ohne es zuvor prüfend im Lichteinfall zu wenden.
    Als Sebastian von hinten an sie herantritt, streckt sie die feuchten Hände von sich. Ihre Achselhöhlen sind rasiert. Sanft steigen seine Finger die Treppe aus Wirbeln hinauf, vom Steiß bis zum Nacken.
    »Ist dir kalt?«, fragt sie. »Du zitterst ja.«
    »Gibt es noch etwas außer meinem vegetativen Nervensystem«, ruft Sebastian absichtlich laut, »für das ihr euch interessiert?«
    »Ja«, sagt Maike. »Rotwein.«
    Sebastian küsst sie auf den Hinterkopf. Beide wissen, dass Oskar den Artikel im SPIEGEL gelesen haben muss. Maike besitzt nicht genug Ehrgeiz, um den wissenschaftlichen Dauerstreit der beiden Männer inhaltlich verstehen zu wollen. Aber sie kennt die Abläufe. Oskars Stimme ist bedrohlich leise, wenn er angreift. Sebastian zwinkert häufiger als sonst und lässt die Arme hängen, während er sich verteidigt.
    »Ich habe einen Brunello gekauft«, sagt sie. »Den wird er mögen.«
    Als Sebastian nach der Karaffe greift, huscht ein roter Lichtpunkt über Maikes Brust, als zielte ein betrunkener Scharfschütze durchs offene Fenster. Frucht, Eiche, Erde. Sebastian widersteht der Versuchung, sich ein Glas einzuschenken, und dreht sich nach Liam um, der wartend vor der Küchenwaage steht. Wange an Wange lesen sie die Digitalanzeige ab.
    »Ausgezeichnet, kleiner Professor.« Sebastian drückt seinen Sohn an sich. »Was gibt es zu bemerken?«
    »Die Natur entspricht unseren Berechnungen«, sagt Liam, nach seiner Mutter schielend. Ihr Messer hackt auf dem Holzbrett einen trockenen Takt. Sie mag es nicht, wenn er mit auswendig gelernten Sätzen angibt.
    Bevor Sebastian seine Kurve zurück ins Arbeitszimmer trägt, bleibt er einen Moment auf der Türschwelle stehen. Maike wird sagen wollen, dass sie ihm nachher den Rücken freihält. Sie mag diesen Ausdruck. Er klingt nach einem Kampf namens Alltag, aus dem sie Abend für Abend als Siegerin hervorgeht. Dabei ist Maike eigentlich kein kämpferischer Typ. Bevor sie Sebastian kennenlernte, war sie eine ausgemachte Schwärmerin. Wenn sie bei Nacht durch die Straßen spazierte, träumte sie sich in jede erleuchtete Wohnung hinein. In Gedanken begann sie, fremde Topfpflanzen zu gießen, fremde Abendbrottische zu decken und fremden Kindern über den Kopf zu streicheln. Jeder Mann war ein möglicher Liebhaber, an dessen Seite sie in der Phantasie ein wildes oder bürgerliches, künstlerisches oder politisches Leben führen konnte – je nach Augenfarbe und Statur des Gegenübers. Maikes vagabundierende Einbildungskraft bewohnte Menschen und Orte im Vorübergehen. Bis sie Sebastian traf. In dem Augenblick, da sie ihm auf der Freiburger Kaiser-Joseph-Straße in die Arme lief (auf dem Münsterplatz!, würde Sebastian sagen, denn es gibt von ihrem ersten Treffen zwei Versionen, eine für ihn und eine für sie), wechselte die Wirklichkeit ihren Aggregatzustand von gasförmig zu fest. Es war Liebe auf den ersten Blick und damit ein Verbot von Alternativen, eine Reduktion der unendlichen Menge an Möglichkeiten auf ein Jetzt und Hier. Sebastians Erscheinen in Maikes Leben bedeutete, wie er es ausdrücken würde, einen Kollaps der quantenmechanischen Wellenfunktion. Seitdem gibt es für Maike einen Rücken, den sie freihalten kann. Sie tut es bei jeder Gelegenheit und gern.
    »Ihr könnt nachher in aller Ruhe sprechen«, sagt sie und wischt sich mit dem Unterarm eine Strähne aus der Stirn. »Ich werde dir …«
    »Ich weiß«, sagt Sebastian. »Danke.«
    Beim Lachen lässt sie einen Kaugummi zwischen den Backenzähnen sehen und ist trotzdem unwiderstehlich mit ihren
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