Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schilf

Schilf

Titel: Schilf
Autoren: Juli Zeh
Vom Netzwerk:
kehrte von Zeit zu Zeit mit einem Buch an den gemeinsamen Tisch zurück. Seit Oskar sich angewöhnt hatte, einen Arm um den Freund zu legen, während er ihn auf eine interessante Stelle aufmerksam machte, sammelten sich auf den Bänken hinter den Glasscheiben des Lesesaals Germanistikstudentinnen. Wenn Oskar und Sebastian auf Partys jeder für sich durch die Menge glitten, mochte es vorkommen, dass Sebastian eins der Mädchen mit schwerer Zunge küsste. Hob er den Kopf, konnte er sicher sein, quer durch den Raum Oskars lächelndem Blick zu begegnen. Am Ende des Abends wurde das Mädchen zum Ausgang geführt und wie ein Kleidungsstück bei einem beliebigen Kommilitonen abgegeben. Im Anschluss daran geleiteten Oskar und Sebastian einander bis zur Gabelung ihrer Heimwege durch die Nacht. Dort blieben sie stehen; das Licht einer Laterne umgab sie wie ein Zelt, das keiner von ihnen verlassen mochte. Es ließ sich schwer entscheiden, welcher Moment für den Abschied geeignet sein sollte – dieser, oder doch erst der nächste? Während vorbeifahrende Autos ihren gemeinsamen Schatten um die eigene Achse drehten, schworen sie stumm, dass sich zwischen ihnen niemals etwas ändern dürfe. Die Zukunft gab es nur als einen ebenmäßigen, sich langsam entrollenden Teppich des Zusammenseins. Beim ersten Piepsen der Vögel drehten sie sich um, und jeder verschwand in seiner Hälfte des anbrechenden Morgens.
    Am ersten Freitag im Monat erlaubt sich Oskar für ein paar Sekunden die Vorstellung, der ICE bringe ihn zu einem jener Abschiede unter den Freiburger Laternen zurück. Zu einem hitzigen Disput an der Dreisam, oder wenigstens zu einem gemeinsam aufgeschlagenen Lehrbuch. Dann schmeckt er das eigene Lächeln auf den Lippen, nur um gleich darauf in gereizte Stimmung zu verfallen. Selbstverständlich gibt es das Freiburg der nächtlichen Laternen nicht mehr. Es gibt einen kreisförmigen Tunnel unter der Schweiz, in dem Oskar Elementarteilchen mit annähernder Lichtgeschwindigkeit aufeinanderprallen lässt. Und es gibt eine Stadt, in die er auf Einladung von Sebastians Frau zu einem Familienessen fährt. An einem Freitag hat Oskar den puppengroßen Liam zum ersten Mal gesehen. An einem Freitag erfuhr er von Sebastians Ruf an die Universität. An Freitagen sehen sie einander in die Augen und versuchen dabei, nicht an die Vergangenheit zu denken. An Freitagen streiten sie. Für Oskar ist Sebastian nicht nur der einzige Mensch, dessen Gegenwart er mit Freude erträgt. Sebastian ist auch ein Wesen, das ihn mit der geringfügigsten Bewegung zur Weißglut treiben kann.
    Während der Zug auf freier Strecke steht, bückt sich Oskar nach seiner Tasche und entnimmt ihr ein zusammengerolltes Exemplar des SPIEGELS, das sich von selbst an der richtigen Stelle öffnet. Den Artikel muss er kein weiteres Mal lesen; er kennt ihn fast auswendig. Stattdessen betrachtet er das Photo. Es zeigt einen vierzigjährigen Mann mit blondem Haar, hellen Wimpern und Augen aus einem blaugläsernen Material. Der Mann lacht, wobei sein halb offener Mund eine leicht rechteckige Form annimmt. Dieses Lachen kennt Oskar besser als sein eigenes. Vorsichtig streicht er dem Porträt über Stirn und Wangen und drückt dann plötzlich den Daumen hinein, als wollte er eine Zigarette zum Verlöschen bringen. Das Stehen des Zugs macht ihn nervös. In der benachbarten Sitzgruppe verteilt eine geblümte Mutter belegte Brote aus Plastikdosen. Salamigeruch breitet sich aus.
    »Schon vier!«, ruft der Vater, dessen Gesicht auf einer weichen Fettmanschette ruht, und klopft mit dem Handrücken auf seine Zeitung. »Hier! Vierter Todesfall. Bei der Operation verblutet. Chefarzt streitet weiter ab.«
    »Vier kleine Negerlein«, singt eine helle Kinderstimme, »die fuhren übern Rhein.«
    »Ruhig«, sagt die Mutter und erstickt den Gesang mit einem Apfelschnitz.
    »Steckt Pharmaindustrie hinter Patientenversuchen?«, liest der Vater. Derb schiebt er die Lippen vor, wenn er aus seiner Bierflasche trinkt.
    »Alles Verbrecher«, sagt die Mutter.
    »Die sollte man doch.«
    »Wenn man könnte.«
    Oskar steckt den SPIEGEL zurück in seine Tasche und hofft, dass Sebastian bei der Begrüßung keinen Salamigeruch in seinen Kleidern bemerken wird. Mit langen Schritten verlässt er das Großraumabteil. Als der Zug plötzlich anruckt, wäre er fast gestürzt. Schickt die Dummen in den Krieg, denkt er, während er sich im Vorraum bei den Toiletten gegen die Wand lehnt. Verheizt sie in der Ödnis
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher