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Schilf

Schilf

Titel: Schilf
Autoren: Juli Zeh
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überreichen zu wollen, eine Salome, nur ohne Silberschüssel. In der Straßenmitte bleibt sie stehen und setzt den Kopf auf den Boden. Er kippt zur Seite, rollt auf Oskar zu, dreht sich im Halbkreis um die eigenen Halswirbel und bleibt liegen. Oskar begreift, dass er Luft holen muss. Nach zwei Atemzügen lässt das Schwindelgefühl nach.
    »Ich verstehe.« Er will die Arme verschränken, aber sie hängen ihm zu schwer an den Seiten herab.
    »Sebastian!«, ruft er, und dann, leiser, weil sich in diesem Standbild nichts rührt: »Du bist nicht der große Fachmann für doublethink gewesen. Das war leider ich.«
    Wenn er einen Säbel hätte, würde er ihn jetzt umdrehen und vor sich auf den Boden legen.

8
    E r hat den Anfall vorausgesehen, weshalb ihn der Stoß, den ihm das Vogelei versetzt, nicht gleich zu Fall bringt. Ein Pfeifen in den Ohren, wo auch immer die sich befinden. Ein Stechen hinter der Stirn, wie auch immer die abhandengekommen ist. Schließlich ein Riss quer durchs Gehirn, wer auch immer das gerade benutzt. Durch den ganzen Körper, den Kommissar in zwei Hälften teilend. Du besitzt doch fast alles doppelt, Beine, Hände, Augen, Nasenlöcher, da kann man ohne weiteres zwei Menschen aus dir machen.
    Schmerzhaft ist es in den ersten Sekunden nicht. Mit beiden Händen stützt Schilf seinen Kopf, in dem ein Kampf von großer Entschlossenheit tobt. Etwas drängt zur Freiheit, wehrt sich gegen das Gefängnis, in dem es viel zu lange gewachsen ist. Ein scharfer Schnabel pickt gegen die Schale. Im Takt dazu tanzen schwarze Punkte im Sichtfeld. Überhaupt sind seine Augen nicht mehr zu gebrauchen, weshalb er nicht sieht, ob sich Sebastian und Oskar in den Armen liegen. Ob Schnurpfeil, sein Fahrrad schiebend, die Straße heraufkommt, um sich neben Rita Skura zu stellen. Dafür sieht er eine Wasserfontäne, die bis in unendliche Höhen steigt. Im Sprühnebel steckt ein zersplitterter Regenbogen. Ein Junge, das Haar benetzt von der Gischt, reckt lachend die Arme gen Himmel. Als er sich umdreht, gehört sein Gesicht ebenso Liam wie einem anderen Kind. Mein Sohn, denkt der Kommissar. Die, sagt der Junge, auf seine Armbanduhr deutend, die lügen alle. Eine blonde Frau schaut lächelnd auf den Jungen hinab. Dann schaut sie dem Kommissar in die Augen. Wir werden sehen, sagt sie.
    Unter Schilfs Haut pflanzt sich ein Zittern fort. Die Zähne schlagen ihm aufeinander, als wollten sie sich selbst zu Staub zermahlen. Haltsuchend krallt er alle zehn Finger ins eigene Haar. Endlich knickt ihm der Schmerz die Beine. Die Schale zerbricht.
    Der Kommissar fällt und erreicht den Boden nicht, verliert sich in einem Sturz ohne oben und unten. Spürt Hände und Füße nicht mehr, dafür einen Luftzug an der Stirn. Sein Schädel hat sich geöffnet, ein Zappeln, ein Flattern, etwas zwängt sich hinaus. Es schüttelt sich, spreizt die Schwingen, versprüht bunt schillerndes Licht von bezwingender Schönheit, schöner als alles, was Schilf jemals gesehen hat.
    Auf Wiedersehen, Beobachter, denkt der Kommissar.
    Ein Vogel steigt auf. Findet seinen Schwarm. Kreist über der Stadt.

Epilog
    I m Abflug nach Nordosten gleicht Freiburg weniger einer Stadt als einem Teppich aus ineinanderfließenden Farben. Eine bunt schimmernde Masse, von der niemand sagen könnte, ob er ein Teil von ihr ist oder sie von ihm. Ein Mosaik aus Dächern, über das die Morgensonne ihre verschwenderischen Goldtöne gießt. Das gewundene, quecksilberne Band der Dreisam dazwischen. Die blaue Luft trägt wie Wasser. Die Berge rufen die Vögel zurück. Die Vögel erstatten den Bergen Bericht.
    So ist es, sagen wir, in etwa gewesen.

Impressum
    Das ist die E-Book-Ausgabe des im Jahr 2007 im Verlag Schöffling & Co. erschienenen Buchs.

© Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung GmbH,
Frankfurt am Main 2012
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagfoto: David Finck
E-Book-Konvertierung: Fotosatz Amann, Aichstetten
ISBN 978-3-89561-974-8

    www.schoeffling.de

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Kurzbeschreibung
    »Wir haben nicht alles gehört, dafür das meiste gesehen, denn immer war einer von uns dabei. Ein Kommissar, der tödliches Kopfweh hat, eine physikalische Theorie liebt und nicht an den Zufall glaubt, löst seinen letzten Fall. Ein Kind wird entführt und weiß nichts davon. Ein Arzt tut, was er nicht soll. Ein Mann stirbt, zwei Physiker streiten, ein Polizeiobermeister ist verliebt. Am Ende scheint alles anders,
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