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Schilf

Schilf

Titel: Schilf
Autoren: Juli Zeh
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wünscht sie, ihren Dienst noch immer in Uniform zu tun. Das würde die Welt ein wenig auf Abstand halten.
    »Sie wollen Rache«, sagt Rita. »Gerechtigkeit. Moralischen Sieg. Lauter Dinge, die mit der Polizeiarbeit nichts zu tun haben. Das haben Sie uns in den Seminaren selbst beigebracht.«
    »Ich will eine Ordnung wiederherstellen«, sagt der Kommissar. »Ansonsten liegen Sie richtig.«
    »Sie überschreiten alle Kompetenzen, und zwar zu Ihrem Privatvergnügen. Nennen Sie mir einen Grund, Schilf, warum ich mitmachen sollte!«
    »Einverstanden«, sagt der Kommissar. »Ich zeige Ihnen den Grund.«
    Rita kennt die Unterlagen, die er aus seiner Aktentasche zieht. Es sind Kopien aus der Akte zum Fall Dabbeling. Aber Schilf sucht etwas anderes, blättert vor und zurück, greift noch einmal in die Tasche und entnimmt ihr eine halb transparente Photographie. Das Bild schwankt zwischen seinen Fingern, während er es nach hinten reicht. Rita legt die düstere Aufnahme an die Scheibe des Seitenfensters.
    Sie zeigt ein wolkiges Gebilde, eine gute Handspanne lang, oval und so diffus, dass es sich auf dem schwarzen Hintergrund zu bewegen scheint. Um das schattige Zentrum krümmt sich ein Schlauch, weiß wie eine Made und mit verschlungenem Gedärm gefüllt. Das ganze Ding wird außen von zwei Häuten zusammengehalten, die eine breit und schwarz, die andere dünner und hell. Obwohl Rita den Anblick widerlich findet, kann sie die Augen nicht abwenden. Am unteren Rand des Bilds steht in Großbuchstaben der Name des Kommissars.
    »Da Sie ständig an meinen Absichten zweifeln«, sagt Schilf, »werfen Sie doch einfach einen Blick in meinen Kopf.«
    Er reibt sich die spärlich behaarte Kugel, an deren Vorderseite das Elefantengesicht locker auf den Knochen sitzt.
    »Schauen Sie genau hin.«
    Sein Zeigefinger streichelt den Rücken der Made, fährt ihr zärtlich über den eingerollten Kopf. Am Scheitelpunkt der Krümmung entdeckt Rita einen Fleck von Größe und Form eines Vogeleis. Mehrmals tippt der Finger des Kommissars darauf.
    »Großer Gott«, sagt Rita.
    »Nein«, sagt Schilf. »Der sicher nicht.«
    Die Kommissarin sitzt still und starrt auf das Ding, als wäre ihr soeben die Verbindung zwischen Hirn und Körper gekappt worden. Sie weiß, dass sie ihn umarmen sollte. Sie würde es sogar gern tun. Er lächelt tapfer, ein zum Greis gewordenes Kind, und Rita will ihn eine Weile festhalten, ihr Gesicht gegen seines legen, nicht, um ihn zu trösten, sondern weil sie sich mit einem Mal allein fühlt, zurückgelassen, als wäre sie auf der ganzen Welt nur von Puppen umgeben und Schilf der letzte andere Vertreter einer aussterbenden Art: lebender Mensch.
    Aber sie kann nichts tun. Sie findet keinen Ansatzpunkt für eine passende Bewegung, kann nicht einmal mitlächeln, obwohl der Blick des Kommissars voller Wärme ist.
    »Wie lange noch?«, fragt sie endlich.
    »Wer weiß. Ein paar Wochen.«
    Schilf nimmt das Ergebnis der Kernspintomographie wieder an sich und verstaut es in der Tasche zu seinen Füßen. Als er sich aufgerichtet hat, sitzen sie hintereinander wie Mitreisende in einem Bus. Rita sieht Kopfhaut zwischen seinen schütteren Haaren, dazu ein paar Schuppen.
    »Schweres Geschütz, nicht wahr, Rita-Kind? Glauben Sie jetzt, dass es mir ernst ist?«
    Rita nickt. Das muss er gehört haben. Sein Lächeln lässt die Ohren ein Stück aufwärts wandern.
    Auf der Straße klebt eine überfahrene Taube; die Federn am Rand des zerquetschten Leibs tanzen in den Luftwirbeln vorbeifahrender Autos. Die Ampel schaltet auf Rot. Betont langsam rollen die Fahrzeuge auf die Haltelinie zu und kommen in wohlkalkulierten Abständen zum Stehen. Eine Frau schaut im Vorbeigehen neugierig in den Mannschaftswagen hinein. Auf der anderen Straßenseite pfeift ein Student hastig nach seinem frei laufenden Hund. Ein Radfahrer beeilt sich, den Gehweg zu verlassen, und wäre fast mit einem Kind kollidiert, das sein Eis fallen lässt und zu schreien beginnt.
    »Wenn wir noch lange hier stehen, bricht ein Bürgerkrieg aus«, sagt der Kommissar.
    »Und was«, fragt Rita, »wenn er heute Nacht nicht kommt?«
    »Ein Ehrenmann erscheint zum Duell.«
    »Woher wollen Sie das wissen?«
    Schilf wendet den Kopf ins Profil und sieht die Kommissarin aus dem Augenwinkel an:
    »Soll ich das Photo noch einmal aus der Tasche holen?«
    Lange Minuten vergehen, bis sich die Tür des Sportgeschäfts öffnet. In Schnurpfeils Armbeuge schaukeln bunte Tüten. Sebastian hebt eine Hand
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