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Schilf

Schilf

Titel: Schilf
Autoren: Juli Zeh
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erzeugt in ihm einen solchen Lärm, dass er befürchtet, Julia durch die Lautstärke seiner Gedanken zu wecken. Vorsichtig erhebt er sich und drückt die Schlafzimmertür ins Schloss.
    Gleich darauf steht er am offenen Fenster. Sein Kopf ist klar, kein Presslufthammer arbeitet am Abriss der tragenden Wände. Hinter ihm auf der Couch liegt eine große, dunkle Rolle, darin Sebastian, der so still ist, als wäre er froh, keine Antworten mehr geben zu müssen. Das Zebramuster im Zimmer ist schärfer geworden, Mond und Straßenlaternen streiten um die Farbe des Lichts. Die Straße unten bedeckt noch immer ein Teppich aus Sägemehl. Schilf erinnert sich gut an das Federn unter den Sohlen und den Geruch nach Zirkusmanege. Er steckt sich ein Zigarillo an. Der Rauch wirft wirbelnde Schatten auf das Fensterbrett, die sich ineinander verschlingen, verblassen und erneut in Bewegung geraten, wenn er den nächsten Zug aus den Lungen entlässt. So stellt er es sich vor, jenes geheimnisvolle Geflecht, die Ursuppe am Grund der Realität: als Schatten eines Gottes, der am Fenster raucht.
    In der Kochnische leuchtet die Tür des Einbaukühlschranks wie eine weiße Leinwand. Schilf krümmt die Finger und lässt einen Schattenhund auf der Oberfläche hecheln. Abgesehen von der wühlenden Aufregung im Magen, fühlt er sich zufrieden. Es gibt so wenig, was ein Mensch im Leben erreichen kann. Den Geruch einer Frau wiedererkennen. Einem Kind über den Kopf streicheln. Einen Widersacher im Duell besiegen. Sich Gedanken machen über das Wesen der Dinge und dabei nicht vergessen, dass man sämtliche Ideen mitnehmen wird, wenn man eines Tages die Welt durch ihre viel benutzte Hintertür wieder verlässt.
    Schilf hat seinen Anteil am Glück in den ersten Jahrzehnten des Lebens verbraucht und bewegt sich seitdem im Kontokorrentbereich. Schon lange glaubt er nicht mehr daran, dass der Tod das Schlimmste ist, was einem Menschen zustoßen kann. Zudem haben ihm Sebastians Ausführungen über Langzeitbelichtungen den Schwindel am Rand des letzten Abgrunds ein für alle Mal ausgetrieben. Allein dafür steht er ewig in Sebastians Schuld. Ohne Angst kann Schilf daran denken, wie sein Bewusstsein schmerzlos hinabsinken wird in jenen Schaum aus Information und Transformation, dem es einst entstiegen ist und in das es sich zeit seines Lebens auf der Suche nach Erkenntnis zurückgesehnt hat. Ihn schreckt nicht einmal das Wissen, einen unerfreulichen Brocken Materie zurücklassen zu müssen, ebenso hart und hässlich wie der tiefgefrorene Dabbeling. Zuverlässig wird die Recyclingmaschine namens Natur dafür sorgen, dass nichts unverwertet bleibt. Ganz gleich, wo man ihn verscharren, verbrennen oder dem Meer übergeben wird, es werden ausreichend Pflanzen und Tiere zur Stelle sein, um sich von jenem Kohlenstoff zu ernähren, der momentan noch in menschlicher Gestalt am Fenster steht und Rauchschwaden zu grundsätzlichen Überlegungen spinnt. Sie werden etwas Schönes aus ihm machen, Ranken, Blüten oder buntes Gefieder. Was ihm vorgestern noch wie ein erdrückendes Chaos aus ungelösten Fragen erschien, hat sich in eine übersichtliche, seit Jahrtausenden bewährte Partitur verwandelt. Der Kommissar wird noch etwas erledigen und dann gehen.
    Ein einsamer Hund läuft unter dem Fenster vorbei.
    »Was«, fragt es hinter Schilf in der Dunkelheit, »ist eigentlich mit dem Zeitmaschinenmörder passiert?«
    Der Kommissar dreht sich um. Auf der Couch hat sich nichts verändert. Sebastian verrät durch keine Regung, dass er wach und bei Sinnen ist.
    »Lebenslänglich«, sagt Schilf.
    Lächelnd zieht er an seinem Zigarillo. Es erfüllt ihn mit Wohlbehagen, diesen Mann in seiner Wohnung zu wissen, eingewickelt in ein Deckenpaket, das, so glaubt er, von innen erleuchtet sein müsste. Er sieht Sebastian vor sich, wie er in seinem Arbeitszimmer über das Wesen der Zeit spekuliert, einen Bleistift zwischen Daumen und Zeigefinger, auf dem Kopf eine Mütze aus Sonnenlicht. Er hört Liam beim Spiel im Nebenzimmer murmeln und vernimmt ein scharfes Rascheln, wenn Maike im Wohnzimmer die Seiten eines Kunstkatalogs umschlägt. Diese Bilder, so hofft er, entstammen der Vergangenheit ebenso sehr wie der Zukunft. Erinnerungen, die man mitnehmen kann.
    Ein paar Straßen weiter beendet der Hund seinen nächtlichen Spaziergang, rollt sich auf der Fußmatte vor der Tür seines Herrn zusammen und denkt an gar nichts. Er spekuliert nicht einmal über das Wesen der Zeit, die nicht mehr
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