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Schilf

Schilf

Titel: Schilf
Autoren: Juli Zeh
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Bedeutung für ihn besitzt als der Unterschied zwischen Hiersein und Wegsein. Etwas, das er selbst regulieren kann, indem er die Augen öffnet oder schließt.
    »Er wurde verurteilt«, fragt Sebastian, »obwohl er glaubte, ein physikalisches Experiment durchzuführen?«
    »Man hat ihn nicht für seine Überzeugungen bestraft, sondern für seine Methoden.«
    »Falls Ihr Plan aufgeht, was wird mit Oskar geschehen?«
    »Er wird einen Teil seines Lebens opfern, um Ihnen einen Teil des Ihren zurückzugeben.«
    Der Hund zwinkert und findet alles dort, wo es hingehört. Die Schuhe seines Herrchens stehen neben ihm, und die Fußmatte, auf der er liegt, riecht wunderbar nach ihm selbst.
    »Ist Ihnen klar«, fragt Sebastian, »dass es unmöglich ist, mich in mich selbst zurückzuverwandeln?«
    »Ja«, erwidert Schilf. »Aber wenn wir es nicht versuchen, werden Sie eines Tages wie ich.«
    »Kriminalkommissar?« Sebastian lacht. »Als Mörder?«
    Der Erste Kriminalhauptkommissar hebt eine Augenbraue. Er löscht das Zigarillo und schnippt es auf die Straße.
    »Wenn Oskar gesteht, haben Sie gute Chancen auf einen Freispruch.«
    »Ein Leben hinter Gittern erscheint mir momentan ganz wünschenswert.«
    »Sie wissen nicht, wovon Sie sprechen.«
    »Die Kommissarin Skura sagt, man habe Oskar in Gwiggen erkannt. Sie könnten ihn auch auf konventionelle Weise überführen.«
    »Es wundert mich, dass ein Mann wie Sie so wenig versteht.«
    »Ich bin einseitig spezialisiert.«
    Diesmal lachen sie gemeinsam. Sebastian bewegt sich unter seinen Decken. Der Kommissar wird gleich wieder ernst.
    »Das Schlimmste«, sagt er, »geschieht immer danach. Es geschieht dann, wenn die Menschen glauben, dass sich das Schlimmste bereits ereignet habe.«
    »Weiter«, sagt Sebastian.
    »Als Sie bei Oskar in Genf waren, hat er sich selbst betrogen. Und dadurch auch Sie. Ausgerechnet er hat Ihnen ein Paralleluniversum angeboten. Eine gemeinsame Flucht, die er sich selbst am meisten wünschte. Verrat wiegt schwer. Kein Polizist, kein Richter der Welt kann damit umgehen.«
    »Noch weiter«, sagt Sebastian.
    »Angenommen, Sie stoßen in der Fußgängerzone fahrlässig mit einer Frau zusammen. Die Frau stolpert und bricht sich den Knöchel. Eine Woche später hat sie einen Autounfall, kommt wegen des gebrochenen Knöchels nicht aus dem Wagen und verbrennt. Kein Gericht wird Sie wegen Mordes verurteilen. Nicht mal die Polizei wird sich bei Ihnen melden. Aber überlegen Sie, was Ihnen von Ihrem inneren Richter blüht!«
    »Sie wollen Oskar vor seinen inneren Richter führen«, sagt Sebastian langsam.
    »Weil das der einzige Richter ist«, sagt Schilf, »der Sie wirklich entlasten kann.«
    Sebastian schweigt. Der Kommissar schließt das Fenster und setzt sich in den Sessel neben der Couch, um für zwei Stunden stumm an die Decke zu starren.

7
    W enn man einen Mann wie Oskar auffordert, morgens um fünf auf einer Waldlichtung zu erscheinen, kommt er. Auch wenn man ihm nicht das Recht lässt, die Waffen zu wählen.«
    Zweifelnd hält Rita Skura dem Blick des Ersten Kriminalhauptkommissars stand, dann nickt sie. Der Wald ist noch nicht fertig mit seiner Morgentoilette. Taufeuchte Blätter glänzen wie frisch gewaschen, roter Fingerhut gähnt aus unzähligen gefleckten Mäulchen. Im Orchestergraben stimmt die Vogelphilharmonie ihre Instrumente. Die Menschen sehen blass aus inmitten dieses kollektiven Erwachens. Das frühe Licht findet jede Unzulänglichkeit, zeichnet Ringe unter die Augen, schärft Falten neben Mündern und Nasen. Das Kopfweh ist an diesem Morgen kein Schmerz, sondern ein gut gepolstertes Vakuum. Schilf befingert seinen Nacken, ertastet jenen Haltegriff aus Wirbeln, auf den sein Schädel geschraubt ist. Er befühlt die Schläuche und Kabel, die ihn, der sich immer nur ganz oben, auf der Kommandobrücke seiner Gesamtexistenz aufhält, mit dem restlichen Körper verbinden. Schon meint er zu spüren, wie ihm die Haut über den Knochen trocknet und seine Mundwinkel zu einem diabolischen Lächeln verbiegt, das Rita unsicher erwidert.
    Er gibt ihr ein Zeichen. Sie tritt auf Schnurpfeil zu, der im gelben Trikot verloren neben einem Rennrad steht, und spricht leise auf ihn ein. Der Polizeiobermeister senkt den Kopf, um sein Ohr ihren Lippen zu nähern. Irgendwie gelangt ihre Hand an seine Wange. Die Berührung verwandelt Schnurpfeil in einen strahlenden Helden. Schilf sieht, wie sich Kommissarin und Polizeiobermeister in die Augen schauen. Ein schönes
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