Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schilf

Schilf

Titel: Schilf
Autoren: Juli Zeh
Vom Netzwerk:
Paar.
    Seine Freundin hat der Kommissar beim Aufbruch aus der Dienstwohnung nicht geweckt. Er hat Sebastian an der Schulter gerüttelt und dabei einen Finger an die Lippen gelegt. Dabbeling war im Eisfach festgefroren. So leise wie möglich haben sie mit einem Schraubenzieher hantiert und die Wohnung auf Zehenspitzen verlassen.
    Verrat wiegt schwer, dachte der Kommissar, denkt der Kommissar.
    Aber er denkt auch: Ich habe sie nicht nach ihrer Vergangenheit gefragt. Sie fragt mich nicht nach meiner Zukunft. Und: Das nennt man einen Deal. Was Schlaf und Tod miteinander verbindet, ist die Tatsache, dass beide für ihre Gäste nur Einzelzimmer bereithalten. Man kann niemanden mitnehmen.
    Rita zieht ihre Hand von Schnurpfeils Wange zurück.
    »Vorwärts, jetzt«, sagt sie scharf.
    Der Polizeiobermeister steigt aufs Rad und tritt hart in die Pedale, um bergauf an Fahrt zu gewinnen. Schilf sieht ihn die langgezogene Kurve bewältigen, vorbei am Gasthaus auf der Holzschlägermatte, am oberen Rand der Senke entlang, bis er, schon klein geworden, im Wald verschwindet. Dort wird er sich samt Fahrrad zwischen den Bäumen verbergen. Und warten.
    Schilf wendet sich ab und prüft das Drahtseil mit einer Hand. Sebastian hat es, als Experte in solchen Fragen, bis zum Äußersten gespannt, obwohl das für den heutigen Auftritt gar nicht nötig wäre.
    Schilf gibt ein weiteres Zeichen. Daraufhin geht Sebastian, der das gleiche gelbe Trikot wie Schnurpfeil trägt, in die Knie. Ein paar Meter vom Drahtseil entfernt streckt er sich bäuchlings auf dem Asphalt aus, so dass sein Körper in die Fahrbahn ragt. Rita Skura kommt herbei und bedeckt ihm Kopf und Schultern, die am Straßenrand liegen, mit Zweigen.
    Wenn der Kommissar steil nach oben schaut, kann er das zweite Rennrad sehen, das in den Baumkronen schwebt und sich an einer unsichtbaren Nylonschnur langsam um sich selbst dreht. Gleich beim zweiten Versuch ist es dem Polizeiobermeister gelungen, die Spule wie einen Enterhaken in die Äste zu werfen. Er hat das Rad hinaufgezogen und die Spule am Stamm einer jungen Birke befestigt. Schilf bindet sie los und muss kräftig zupacken, weil das Gewicht des Rennrads so stark zieht.
    Drahtseil, toter Körper, Fahrrad.
    Auf sein letztes Kommando tritt Rita Skura hinter den rechten, er selbst hinter den linken der beiden Bäume, zwischen denen sich das Drahtseil spannt.
    Die Vogelphilharmonie hat sich eingestimmt und pfeift eine aleatorische Ouvertüre. Obwohl der Kommissar aufgeregt ist, entschließt sich sein Herz nur widerwillig zu jedem weiteren Schlag. Zu seinen Füßen tragen Ameisen zersägte Blattstücke hin und her. Keine tote Raupe. Keine Mücken. Schilfs Kopf dehnt sich zu einem weiten Raum, in dem die Gedanken mit hallenden Schritten umherwandern.
    Und wenn er nicht kommt?
    Dann hat die Geschichte kein Ende.
    Und wenn das alles keinen Sinn ergibt?
    Dann wäre nichts Neues über das menschliche Leben gesagt, dachte der Kommissar, denkt der Kommissar.
    Aber er kommt. Stock und Hut hat er für eine gute Idee gehalten, sie passen zu einer romantischen und irgendwie traurigen Scharade. Er sieht damit aus wie ein Sonntagsspaziergänger vor hundert Jahren.
    Das Zimmer im Panorama-Hotel auf dem Gipfel des Schauinslands hat er spät am gestrigen Abend bezogen und im Voraus bezahlt. Gleich bei Sonnenaufgang, teilte er an der Rezeption mit, wolle er zu einer langen Wanderung aufbrechen. Man fand das nicht seltsam. Geduldig erwiderte Oskar das übertriebene Lächeln des Hotelangestellten.
    Die Nachtstunden hat er auf dem Balkon verbracht. Er hat zugesehen, wie zementartiger Nebel die Falten der Berglandschaft füllte, und darüber nachgedacht, ob ihm selbst diese Formulierung seltsam erscheinen müsste: eine lange Wanderung. Seit dem Besuch des Kommissars hat er darauf gewartet, dass sich die Polizei bei ihm meldet. Er hoffte, dass sie diskret genug wären, ihn nicht auf seiner Dienststelle zu besuchen. Eine Antwort auf sämtliche Fragen hatte er sich zurechtgelegt.
    Seine Tat habe nicht mehr dargestellt als einen Scherz unter Freunden. Niemand sollte dabei zu Schaden kommen. Alles Weitere sei, wie die Juristen sagen, auch bei aller erforderlichen und zumutbaren Sorgfalt nicht vorhersehbar gewesen. Und ihm deshalb in keiner Weise vorzuwerfen.
    Mit einer Aufforderung zu einem frühmorgendlichen Waldspaziergang hatte er nicht gerechnet. Es liegt auf der Hand, dass ihm seine vorgefertigten Antworten hier nichts nützen werden. Wahrscheinlich will
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher