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Schilf

Schilf

Titel: Schilf
Autoren: Juli Zeh
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man ihn mit Sebastian konfrontieren. Vielleicht ist es sogar Sebastian selbst, der hinter der ganzen Sache steckt. Vielleicht, dachte Oskar, während er Stunde um Stunde in die dunkle, grausam schweigende Bergwelt schaute, ist dieser Kommissar gar kein Kommissar, sondern ein bezahlter Handlanger. Dann wird Sebastian am Ort des Verbrechens wohl auf Oskar schießen. Interessant wäre, ob er ihm vorher eine zweite Waffe zuwerfen würde.
    Keine Sekunde hat sich Oskar gefragt, ob es vernünftig sei, die Einladung anzunehmen. Für eine schwache Minute befiel ihn die Vorstellung, wie sich Sebastian und er inmitten eines dunstigen Sonnenaufgangs über die Läufe altmodischer Pistolen anvisieren, zögern und endlich die Waffen sinken lassen, um mit ausgebreiteten Armen aufeinander zuzugehen. Sogleich verbot er sich den Gedanken wieder. Er weiß, dass er seinen Freund verloren hat. Jetzt will er nur noch herausfinden, was man für ihn bereithält. Er brennt darauf zu sehen, wie viel er ihnen bedeutet. Ob ihm die Intelligenz eines Schach spielenden Kommissars tatsächlich ebenbürtig ist. Nichts wäre schlimmer, als gegen einen unterlegenen Gegner zu verlieren.
    Wenn diese Mischung aus Vorfreude und Beklommenheit zu einem Wanderer passt, der auf unbekannter Route einem nebulösen Ziel entgegenmarschiert, dann wäre es in der Tat eine lange Wanderung, zu der Oskar am frühen Morgen aufgebrochen ist.
    Jetzt öffnet sich der Wald. Oskar überblickt die weite Senke, auf der hier und dort schlafende Kühe liegen, dunkle Fleischhügel im Gras. Die Straße führt abwärts auf das alte Gasthaus zu, das mit seinen verrammelten Fenstern und Türen beleidigt aussieht. Kurz davor schwingt sich der Fahrweg in eine steile Linkskurve und verschwindet nach hundert Metern wieder zwischen den Bäumen.
    Oskar ist froh, ein Stück unter freiem Himmel gehen zu können. Im Wald war jede Baumleiche ein schwarzer Mann im Mantel; jeder knackende Zweig brach unter fremdem Schritt. Genießen Sie die Schönheiten der Natur, hat der Kommissar am Telefon gesagt. Um nicht nachdenken zu müssen, zählt Oskar seine Schritte. Die Sekunden haben sich verlangsamt, bleiben weit hinter dem Schritttempo zurück und kippen eine nach der anderen in Zeitlupe über den Rand der Gegenwart. Vielleicht ist es auch so, dass Oskar sehr kräftig ausschreitet. Da unten ist es passiert. Bei dreihundert beginnt er, das Verständnis für seine Situation zu verlieren. Bei vierhundert weiß er nicht mehr, was er hier eigentlich macht. Bei fünfhundert erreicht er das Gasthaus. Er reckt den Kopf vor und kneift die Augen zusammen. Dort, wo die Straße in den Wald eindringt, im Zwielicht unter den Baumkronen, glänzt etwas.
    Das Geräusch einer Klingel reißt ihn fast von den Beinen, er hat den Radfahrer von hinten nicht kommen hören. Gerade noch kann er zur Seite springen, als etwas Gelbes an ihm vorbeischießt. Am Ende der Kurve richtet sich das Rennrad auf, mit gesenktem Kopf tritt der Fahrer in die Pedale. Oskar will schreien. Kaum einen Wimpernschlag später hat das Rad den Wald erreicht. Etwas explodiert auf der Straße. Ein Wirbel aus Metallteilen fängt das Licht, klimpernd und klappernd stürzen Schrauben und Gestänge in alle Richtungen auseinander. Noch ein Wimpernschlag, und es ist still. Geradezu totenstill.
    Oskars Ledersohlen sind nicht zum Rennen auf glattem Asphalt gemacht. Er rutscht und stolpert, bückt sich im letzten Augenblick unter dem Drahtseil hindurch, kommt schlitternd zum Stehen. Hebt die Beine vorsichtig über den Fahrradschrott. Da liegt ein Mann im gelben Trikot, der Oberkörper verborgen im Bewuchs am Straßenrand, die Beine ausgestreckt auf der Fahrbahn. Oskar steht und schaut, unfähig, einen weiteren Schritt zu tun, nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Der redegewandte innere Monolog, der ihn seit seiner Kindheit in jeder Lebenslage begleitet, ist verstummt. Unglaublich, wie laut die Vögel singen.
    Die Bewegung in seinem Rücken spürt Oskar mehr, als dass er sie hört. Er reißt sich vom Anblick des Liegenden los und wendet sich um. Links vom Drahtseil steht, reglos wie eine Puppe, der Erste Kriminalhauptkommissar. Auf der rechten Seite eine Frau im Blümchenkleid.
    Zwei Wächter an den Pfosten eines dämonischen Tors.
    Die Frau hält einen Mann beim Schopf, der nur noch aus Gesicht und Hals besteht. Die Augen sind weit geöffnet und fixieren Oskar schamlos. Die Frau setzt sich in Bewegung und scheint ihm das abgetrennte Haupt
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