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Schilf

Schilf

Titel: Schilf
Autoren: Juli Zeh
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Augen macht.
    Sebastian ist nervös wie an jedem ersten Freitagabend im Monat, und genau wie immer schiebt er es darauf, einen schlechten Tag gehabt zu haben. An ersten Freitagen im Monat kann ihm jede Kleinigkeit die Laune verderben. Heute war es eine Begegnung am Ufer der Dreisam, wo er sich in der Mittagspause von seinen Vorlesungen erholt. Dort traf er auf eine Menschengruppe, die, etwas entfernt vom Weg und zunächst ohne erkennbaren Grund, einen flachen Sandhaufen umstand. Aus dem Sand ragte ein jämmerlicher Setzling, der nur von einer Stützvorrichtung aus Holzstangen und Gummibändern aufrecht gehalten wurde. Drei Gärtner lehnten sich auf ihre Schaufeln. Ein schlaksiger Mensch im dunklen Anzug, dem ein kleines Mädchen am Bein haftete, betrat den Sandhügel und sprach festliche Worte. Baum des Jahres. Schwarzer Apfel. Liebe zur Heimat, zur Natur, zur Schöpfung. Ältliche Damen schwiegen im Halbkreis. Dann der Spatenstich, ein affektiertes Schippchen Sand, dazu Wasser, vom kleinen Mädchen aus einer Blechkanne gegossen. Man applaudierte. Gegen seinen Willen musste Sebastian an Oskar denken und daran, was er zu einer solchen Szene bemerkt hätte: Sieh nur, eine Herde Sohlengänger bei der Anbetung ihrer eigenen Hilflosigkeit! – Und Sebastian hätte gelacht und verschwiegen, dass er sich dem Baum des Jahres tatsächlich erschreckend ähnlich fühlte. Ein Setzling in einer übergroßen Stützvorrichtung.
    »Weißt du, was ein Baum des Jahres ist?«, fragt er seinen Sohn, der den Kopf schüttelt und die Schere anstarrt, die sich in der Hand des Vaters nicht weiterbewegen will. »Der Baum des Jahres ist ein Unsinn«, fügt er hinzu. »Der größte denkbare Mist.«
    »Heute kommt Oskar, oder?«
    »Klar.« Sebastian beginnt mit dem Schneiden. »Warum?«
    »Wenn Oskar kommt, redest du immer komisches Zeug. Und«, Liam deutet auf die Bastelpappe, »du bringst Arbeit mit nach Hause.«
    »Ich dachte, es gefällt dir, Kurven zu wiegen?«, fragt Sebastian empört.
    Mit seinen zehn Jahren ist Liam bereits klug genug, um darauf nicht zu antworten. Natürlich liebt er es, seinem Vater bei einem physikalischen Experiment zu helfen. Er weiß, dass die gezackte Linie das Ergebnis einer radiometrischen Messung beschreibt, auch wenn er nicht erklären könnte, was »radiometrisch« bedeutet. Das Integral unter der Kurve lässt sich berechnen, indem man die Fläche ausschneidet und ihren Inhalt durch Wiegen der Pappe bestimmt. Aber Liam weiß auch, dass im Institut Computer stehen, die diesen Vorgang ohne Bastelarbeit bewältigen können. Die Sache hätte sicher Zeit bis Montag gehabt. Es dient also vor allem Liams Vergnügen und damit Sebastians Seelenruhe, sich an diesem späten Freitagnachmittag damit abzugeben. Obwohl das Schneidebrett und die scharfen Messer, die sie eigentlich für die winzigen Zacken und Scharten bräuchten, bei Maike in der Küche sind.
    Wenn Maike für Oskar kocht, gehört das Arbeitsgerät ihr allein. Jedes Mal, wenn sie schon morgens erzählt, welches neue Gericht sie diesmal probieren wird, fragt sich Sebastian, warum ihr diese Treffen so wichtig sind. Liams kultische Verehrung für den Großphysiker aus Genf müsste aus ihrer Sicht eher gegen die Besuche sprechen. Außerdem begegnet Oskar ihr selten anders als mit scharfer Ironie. Trotz alledem war es Maike, die vor zehn Jahren die Tradition der gemeinsamen Essen erfunden hat, und sie ist es, die bis heute darauf besteht. Sebastian vermutet, dass sie, bewusst oder unbewusst, versucht, etwas in geordnete Bahnen zu lenken. Etwas, das sich vor ihren Augen abspielen soll, anstatt sich unkontrolliert in verborgenen Bezirken zu entwickeln. Darüber, was dieses Etwas sein könnte, haben sie nie gesprochen. Im Stillen bewundert Sebastian seine Frau für ihre ruhige Hartnäckigkeit. Er kommt doch am Freitag?, pflegt sie zu fragen, und Sebastian pflegt darauf zu nicken. Mehr nicht.
    Im Mittelteil wird die Kurve einfacher, am Ende wieder kompliziert. Liam stützt die Pappe mit beiden Händen und jubelt, als die Schere die letzte Klippe überwunden hat und der gezackte Rest zu Boden fällt. Behutsam fasst er das Meisterwerk an den Rändern und läuft voraus, um nachzusehen, ob die Küchenwaage frei ist.
    In einem weißen Kleid, das aussieht, als wollte Maike heute Abend ein zweites Mal geheiratet werden, steht sie vor der Anrichte und schneidet widerspenstigen Salat. Ihre Füße sind nackt. Gedankenlos kratzt sie mit dem rechten Zeh einen Mückenstich an der
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