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Schilf

Schilf

Titel: Schilf
Autoren: Juli Zeh
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Afrikas, in asiatischen Dschungeln, egal. Noch fünfzig Jahre Frieden, und die Menschen in diesem Land sind auf das Niveau von Affen zurückgekehrt.
    Draußen fliegen die ersten gepflegten Vorgärten der Freiburger Randbezirke vorbei.

3
    D er Sommer in Freiburg ist wunderbar.«
    Oskar steht am offenen Fenster hinter einem halb zugezogenen Vorhang, schaukelt Wein im Glas und atmet den Duft des Blauregens ein, den er eben noch, aus dem Taxi gestiegen, von der Straße aus bewundert hat. Obwohl er, die Hitze ignorierend, einen dunklen Pullover trägt, wirkt er frisch, als besäße er gar nicht die Fähigkeit zu schwitzen. Hinter ihm knackt das Parkett, er wendet den Kopf.
    Sebastian durchquert das geräumige Esszimmer, betont lässig die Arme schlenkernd, und verkörpert dabei das genaue Gegenteil seines Freundes. Sein Haar ist so auffällig hell, wie Oskars dunkel ist. Während Oskars Haltung immer wirkt, als wohnte er einem festlichen Ereignis bei, hat Sebastian etwas Jungenhaftes. Seine Bewegungen sind von lustiger Schlaksigkeit, und obwohl er sich gut kleidet, heute in Leinenhose und weißes Hemd, sieht es doch immer aus, als wäre er aus Hemdsärmeln und Hosenbeinen ein wenig herausgewachsen. An ihm scheint das Altern im Irrtum und beschränkt sich im Übrigen darauf, seine Lachfalten zu immer größeren Fächern auszubauen.
    Er kommt dicht heran, hebt eine Hand, von der er weiß, dass sie warm und trocken ist, und legt sie Oskar in den Nacken. Kurz schließt Sebastian die Augen, als ihn der Geruch des anderen wie eine Erinnerung überfällt. Die Ruhe, mit der sie die unmittelbare Nähe des anderen ertragen, verrät Übung.
    »In vier Tagen bringe ich einen Menschen um«, sagt Sebastian. »Aber ich weiß noch nichts davon.«
    Das jedenfalls hätte er sagen können, ohne zu lügen. Stattdessen behauptet er:
    »Der Freiburger Sommer ist so schön wie die Menschen, die ihn genießen.«
    Der Konversationston misslingt und verrät Sebastians Anspannung eher, als dass er sie verdeckt. Seine Hand rutscht ab und fällt ins Leere, als Oskar geschmeidig zur Seite tritt. Unten haben Bonnie und Clyde den Anfang der Straße erreicht. Sie wenden und treiben wie Schwemmgut am Haus vorbei.
    »Zur Sache«, sagt Oskar, den Enten mit den Augen folgend. »Ich habe deine Ergüsse im SPIEGEL gelesen.«
    »Ich werte das als Gratulation.«
    »Es ist eine Kriegserklärung, cher ami .«
    »Herrgott, Oskar.« Sebastian schiebt eine Hand in die Hosentasche und fährt sich mit der anderen über das Gesicht. »Die Sonne scheint. Die Vögel singen. Es geht nicht um Leben und Tod. Sondern um physikalische Theorien.«
    »Schon eine harmlose Theorie wie die von der runden Erde hat einen Haufen Leute das Leben gekostet.«
    »Hätte Kopernikus einen Freund wie dich gehabt«, sagt Sebastian, »säßen wir heute noch auf einer Scheibe.«
    Um Oskars Mundwinkel zuckt es. Er holt ein zerdrücktes Päckchen Zigaretten hervor und wartet, bis Sebastian, der selbst nicht raucht, Streichhölzer gefunden hat und Feuer gibt.
    »Und hätte Kopernikus an die Viele-Welten-Interpretation geglaubt«, sagt Oskar, wobei die Zigarette zwischen seinen Lippen hüpft, »wäre die Menschheit am Schwachsinn zugrunde gegangen.«
    Sebastian seufzt. Es ist nicht leicht, mit einem Mann zu diskutieren, der an einem der größten geistigen Vorhaben des neuen Jahrhunderts beteiligt ist. Oskars Ziel ist es, die Quantenmechanik mit der allgemeinen Relativitätstheorie zu vereinigen. Er will E=hν und G α β = 8 π T α β zusammenbringen und damit aus zwei Sichtweisen des Universums eine machen. Eine Frage, eine Antwort. Eine einzige Formel, die alles beschreibt. Mit seiner Suche nach der Theory of Everything ist er durchaus nicht allein. Horden von Physikern arbeiten daran, im Wettstreit miteinander, wohl wissend, dass dem Sieger nicht nur der Nobelpreis zuteil werden wird. Ihm wird, in der Nachfolge von Einstein, Planck und Heisenberg, ein Scheibchen Unsterblichkeit gehören. Seinen Namen werden die Menschen auf ewig mit einer ganzen Epoche verbinden, nämlich mit jener der Quantengravitation. Oskars Chancen stehen nicht schlecht.
    Vorsichtig gesagt, ist Sebastians Schwerpunkt ein wenig anders gelagert. An der Universität arbeitet er als Experimentalphysiker in der Nanotechnologie. Auch wenn er auf diesem Gebiet als brillant gilt, steht er damit (aus Oskars Sicht) zu einem Theoretiker wie ein Maurermeister zum Architekten. Sebastian beteiligt sich nicht am Kampf um die
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