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Schilf

Schilf

Titel: Schilf
Autoren: Juli Zeh
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Vorlesung mehr abhalten, ohne ihr aufdringliches Flüstern zu vernehmen. Manchmal sah er übellaunig von seinen Unterlagen auf, weil er meinte, dass ihn ihr Tuscheln zum Wahnsinn treibe, und musste dann feststellen, dass Oskar und Sebastian gar nicht anwesend waren.
    Durchaus zugegen waren sie an dem Tag, als Rotkäppchen den Studenten eine Aufgabe zur Dunklen Energie präsentierte, deren Lösung nur über die Annahme einer nicht konstanten Einsteinschen Konstanten zu finden war. In der folgenden Woche standen sie nicht am Eingang des Hörsaals, sondern saßen bereits auf ihren gewohnten Plätzen und sahen Rotkäppchen entgegen, der schon auf sie zeigte, bevor er sein Pult erreicht hatte. Gemeinsam erhoben sie sich. Oskar schritt zum rechten Ende der Tafel; Sebastian trat nach einem winzigen Zögern an ihre linke Seite. Die langschößigen Jacken warfen sie über die Schultern und hielten sie mit einer Hand, während die andere das Kreidestück über den Schiefer jagte. Sie schrieben wie besessen; Oskar von hinten, Sebastian von vorn. Außer dem Quietschen der Kreide, welches das Anwachsen der Formel begleitete, war im Saal kein Laut zu hören. Auch als ihre Hände in der Mitte der untersten Zeile aufeinandertrafen, blieb es still. Einige Gesichter im Auditorium teilten sich ein Lächeln. Oskar vollendete das letzte Lambda und klopfte sich den Kreidestaub mit einer applaudierenden Bewegung von den Fingern. Unterdessen stand Rotkäppchen hinter ihnen und besah sich das Formelpanorama bei halb geöffnetem Mund, wie ein Wanderer, der eine verstörend schöne Landschaft bestaunt. Oskar drehte sich um und tippte ihm mit spitzem Finger auf die Schulter, als wollte er ihn wie eine Triangel zum Klingen bringen.
    »Wissen Sie, was wir gerade bewiesen haben, Professor?«
    Seine Stimme war voll und laut und Rotkäppchen zu tief in Gedanken, um Antwort zu geben.
    »Die Physik gehört den Liebenden.«
    Falls Rotkäppchen darauf etwas erwiderte, ging es im Lachen und Rumoren des Hörsaals unter. Ebenso wenig war zu hören, wie das Kreidestück zwischen Sebastians Fingern zerbrach. Während Oskar sich für das gelungene Kunststück feiern ließ, stand Sebastian noch immer mit nachdenklicher Miene vor der Tafel, zog schließlich seine Jacke an und verließ, unbemerkt von seinem Freund, den Saal. Was ihn erschüttert hatte, war die Selbstverständlichkeit, mit der Oskar an das rechte Ende der Tafel getreten war, ihm selbst das linke zuweisend.
    Das Wissen darum, dass es Oskar keineswegs darauf angelegt hatte, ihn in den Schatten zu stellen, machte Sebastians Lage nicht leichter. Es fügte dem unsinnigen Gefühl der Demütigung noch den Stachel der eigenen Ungerechtigkeit hinzu. Während es Oskar nur um das Spektakel, um den Rausch der gemeinsamen Inszenierung ging, wollte Sebastian mehr als alles in der Welt ein guter Physiker werden. Für Oskar war Rechthaben kein Bestreben, sondern ein natürlicher Zustand. Er war schlicht davon ausgegangen, dass Sebastian, im Gegensatz zu ihm selbst, nicht in der Lage gewesen wäre, die Herleitung von hinten nach vorn zu schreiben. Das Schlimme war, dass diese Einschätzung zutraf. Sebastian fühlte einen Zwang, Oskar dafür zu strafen, dass die Sekunde, in der sich ihre Hände in der Mitte der Tafel berührt hatten, ein Moment des einseitigen Triumphes gewesen war. Nur für Oskar ein Fest ihrer Freundschaft und gemeinsamen Brillanz. Für Sebastian ein Beweis seiner Unterlegenheit.
    Von da an fror er in Oskars Gegenwart. Er war nicht imstande, dem Freund zu erklären, warum die Gesetze ihrer Freundschaft mit einem Mal alle Gültigkeit verloren hatten. Seine Repliken bei Streitgesprächen wurden schärfer, seine Zeit für gemeinsame Forschung knapper. Oskar wehrte sich nicht. Sein stiller Blick unter halb geschlossenen Lidern verfolgte Sebastian bis in den Schlaf. Die Weigerung des Freunds, sich gegen die neue Aggressivität zu verteidigen, machte Sebastian nur noch härter. In Oskars Studentenzimmer schrie er gegen enge Wände und enge Weltbilder an, bis Oskar ihn eines Abends kühl und leise als einen stillosen Menschen bezeichnete. In dieser Nacht lief Sebastian allein durch die Straßen und erklärte den Laternen, an deren Masten er sich die Fäuste blau schlug, dass mit der Welt etwas nicht stimmen könne. Dass es weitere Universen geben müsse, in denen die Dinge anders liefen. In denen es unmöglich wäre, dass ein Mann wie er trotz besseren Wissens sein Glück verspielte. In denen er und
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