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Schilf

Schilf

Titel: Schilf
Autoren: Juli Zeh
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Unsterblichkeit. In seiner Freizeit beschäftigt er sich mit der Viele-Welten-Interpretation, an deren Namen (wie Oskar findet) bereits zu erkennen ist, dass es sich nicht um eine Theorie handelt, sondern um ein Steckenpferd. Sebastians Gebiet ist abgegrast. Die Großen haben es bereits vor fünfzig Jahren verlassen; nun wird es nur noch (nach Oskars Meinung) von Aufschneidern und Esoterikern beackert. Eine Sackgasse.
    Im Grunde weiß Sebastian, dass Oskar recht hat. Manchmal fühlt er sich wie ein Kind, das, allen Einwänden der Eltern zum Trotz, störrisch versucht, aus einem Einmachglas und einem Stück Draht eine Glühbirne zu basteln. Vor seinen weniger begnadeten Kollegen, vor den Studenten und meistens auch vor sich selbst behauptet er dennoch, einem ganz neuen Zugang zu den Fragen nach Zeit und Raum auf der Spur zu sein. Einem Zugang, der die Viele-Welten-Interpretation hinter sich lassen wird. Genau genommen macht es keinen Unterschied, ob Sebastian noch daran glaubt oder nicht. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als den eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Selbst wenn er sich vornähme, in Oskars Spiel einzusteigen – ein Rückstand von mehr als zehn Jahren wäre niemals aufzuholen. Der Endspurt im Kampf um die Theory of Everything hat begonnen, als es gelang, die Existenz von W- und Z-Bosonen im Experiment nachzuweisen. Da waren Oskar und Sebastian in ihren Zwanzigern, in jenem Alter also, in dem der Mensch die besten (Oskar: die einzigen) Ideen seines Lebens hat. Schon damals hat sich Oskar seiner Theorie von der diskreten Zeit zu Füßen geworfen wie ein besessener Liebhaber. Seitdem hat er Stunde um Stunde, Woche um Woche, über zehn Jahre lang um sie geworben, und ganz gleich, ob er eines Tages erhört werden wird oder nicht, Sebastian wird damit nichts zu tun haben. Er hat sich an einem sensiblen Punkt anderen Dingen zugewandt. Nicht nur einer anderen Theorie, sondern vor allem einem anderen Leben.
    Der Mann, der die zweifelhafte Ehre besaß, diesen Wendepunkt in Sebastians Leben herbeizuführen, hieß Rotkäppchen. Den Spitznamen verdankte er seinem vom Wein glühenden Schädel, der sich oben durch einen fadenscheinigen Haarkranz gearbeitet hatte. Dazu trug er immer ein abgeschabtes Cordjackett, dessen Schultern von einer Schicht weißer Schuppenflocken bedeckt waren. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen, war Rotkäppchen bei den Studenten beliebt. Er nahm sie ernst und forderte ihre Intelligenz durch verzwickte Aufgaben heraus. Die Zuneigung beruhte allerdings nicht auf Gegenseitigkeit. Rotkäppchen konnte vor allem jene Studenten nicht leiden, die seinen Ansprüchen standzuhalten vermochten.
    Am wenigsten gefielen ihm die beiden jungen Männer, die jeden Morgen den Eingang zum Hörsaal blockierten. Ihre Arroganz war Legende; ihre Freundschaft ein Gerücht, von dem selbst auf den Professorenfluren zu hören war. Noch mehr als einander, hieß es, liebten sie die Physik, um die sie mit der Leidenschaft von Rivalen stritten. Rotkäppchen ertrug es nicht, ihren großmäuligen Diskursen zuzuhören. Viel zu aufrecht standen sie da, inmitten eines Kreises von Zuhörern, rezitierten Formeln wie die Verse eines Librettos und ordneten dabei das Universum mit Dirigentenhänden. Ab und zu wandte Oskar den Kopf, um an einer seiner ägyptischen Zigaretten zu ziehen, und er tat es mit einem Gehabe, das sein Publikum in nervöse Bewegung versetzte.
    Längst wusste die ganze Fakultät, dass Oskar die Welt für ein Feingespinst aus Kausalitäten hielt, deren verborgenes Muster sich nur aus größtem Abstand oder nächster Nähe entziffern lasse. Erkenntnis, meinte er, sei eine Frage der richtigen Entfernung und stehe deshalb nur Gott und den Quantenphysikern offen, während gewöhnliche Menschen blind in mittlerer Distanz zu den Dingen verharrten.
    Sebastian, der immer ein wenig lauter und langsamer argumentierte, schimpfte seinen Freund einen schnöden Deterministen. Er selbst behauptete, nicht an Kausalität zu glauben. Die Kausalität sei, genau wie Zeit und Raum, zuallererst ein erkenntnistheoretisches Problem. Um Oskar und alle Umstehenden zu ärgern, bezweifelte er die Gültigkeit der Empirie als Erkenntnisverfahren. Ein Mensch, der am Flussufer eintausend weiße Schwäne vorbeiziehen sehe, könne daraus nicht schlussfolgern, dass keine schwarzen existierten. Deshalb sei die Physik vor allem eine Dienerin der Philosophie.
    Ungeduldig drängte Rotkäppchen sich an den Streitenden vorbei. Er konnte keine
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