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Schilf

Schilf

Titel: Schilf
Autoren: Juli Zeh
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unter deinen Füßen zittert, wenn dich die Rache der Götter trifft?« Beim Zitieren wird sein Mund von zwei Falten eingefasst, gebogen wie ironische Klammern.
    Natürlich hat Sebastian diese Äußerung nicht vergessen. Sie fiel in der Nacht, nachdem Oskar und er mithilfe einer Flasche Whisky Rotkäppchens Aufgabe zur Dunklen Energie gelöst hatten. In der Kneipe standen die Stühle bereits auf den Tischen; an der Bar wartete ein Kellner seit fünf Zigarettenlängen darauf, dass sie endlich das Lokal verließen. Aber die beiden sahen und hörten nichts; sie hatten die Augen geschlossen und die Stirnen aneinandergelegt, während ihre Schatten an der Wand gemeinsam den Nobelpreis des Jahres 2020 entgegennahmen. Über die Sprache der Zahlen waren sie sich an diesem Abend näher denn je gekommen. Ihre Köpfe hatten so perfekt miteinander gearbeitet, als gehörten sie ein und demselben Wesen. Sebastian hob zwei Finger, legte sie an die Wange seines Freundes und sagte, was ihm soeben eingefallen war: Ich will der Boden sein, der unter deinen Füßen …
    »Wenig später«, sagt Oskar, »hörte ich dann etwas ganz anderes von dir.«
    Auch daran kann Sebastian sich erinnern. Du überschätzt deine Bedeutung, hatte er Oskar in seinem Studentenzimmer angeschrien. Du überschätzt sie im Allgemeinen, und ganz besonders in Bezug auf mich!
    Es gehört zu Oskars Verständnis von gutem Stil, die Raffinesse einer Attacke zu würdigen, auch wenn sie gegen ihn geführt wird. Er bewunderte das präzise Aufeinanderfolgen von vertrauensbildenden Maßnahmen (Ich will der Boden sein …) und tödlichem Stoß (Du überschätzt …), und so lag er in seinem Sessel und tat nichts weiter, als den aufgebrachten Sebastian beifällig anzusehen.
    »So viele Welten«, sagt Oskar jetzt. »Manchmal wünsche ich mir ein Mittel, um dich aus der Spur zu stoßen.«
    »Du übertreibst.«
    »Du warst mal ein guter Physiker, bevor du dich verrannt hast.«
    »Ich habe mich nicht verrannt«, sagt Sebastian mit äußerster Beherrschung. »Ich habe nur die Kopenhagener Deutung nicht als letztverbindliche Wahrheit anerkannt. Auch die Kopenhagener Deutung ist nur eine Interpretation, Oskar. Keine Religion.«
    »Keine Religion, stimmt. Sie bemüht sich um Wissenschaftlichkeit. Ganz im Gegensatz zu deinen Viele-Welten-Eskapaden.«
    »Halten wir fest, dass ich die Viele-Welten-Interpretation im SPIEGEL nicht einmal vertreten, sondern nur erklärt habe. Weil man mich darum gebeten hat.«
    »Wenn du den Blödsinn nicht einmal vertrittst, dann zeigt das nur, dass sich zur Dummheit auch noch Feigheit gesellt.«
    »Es reicht langsam.«
    »Man sollte dich schütteln, damit du aufwachst. Dir ins Gesicht schlagen, bis du dich der Wirklichkeit stellst.«
    »Was«, fragt Sebastian anzüglich, »ist die Wirklichkeit?«
    »Alles«, sagt Oskar und legt plötzlich einen Handrücken leicht gegen Sebastians Bauch, »was dem Experiment zugänglich ist.«
    Ratlos hebt Sebastian einen Arm und lässt ihn wieder sinken. Seine Augen suchen Halt an Oskars Profil, dann an einer aufsteigenden Taube, die ihm gleich wieder aus dem Blickfeld stürzt. Standbein, Spielbein, die hängenden Schultern, der geneigte Kopf – alles an ihm verkündet Kapitulation. Davon bemerkt Oskar nichts. Er hat sich abgewendet, stützt beide Hände auf die Fensterbank und spricht ins Freie.
    »Vielleicht hast du Orwells 1984 gelesen. In Ozeanien lernen die Menschen unter Folter, etwas gleichzeitig für wirklich und unwirklich zu halten. Sie werden mit Gewalt gezwungen, in der Wahrheit nur eine Möglichkeit von vielen zu sehen. Weißt du, wie Orwell das nennt?« Ohne hinzusehen, greift Oskar mit einer überraschenden Bewegung nach Sebastian. »Weißt du es?«
    Sebastian betrachtet die Finger, die sein Handgelenk umschließen. Gleich werden er und Oskar sich zum ersten Mal an diesem Abend direkt in die Augen schauen. Für mehrere Sekunden wird keiner von ihnen den Blick abwenden. Oskars Züge werden sich entspannen. Dann wird er hastig nach einer weiteren Zigarette suchen und sie schweigend entzünden.
    »Ich habe das Buch nicht gelesen«, sagt Sebastian.
    Der Boden unter ihren Füßen beginnt zu zittern, als Liam stürmisch ins Zimmer gerannt kommt. Er wirft sich aus vollem Lauf gegen Oskar, umklammert seine Hüften und stellt je einen kleinen Sockenfuß auf die polierten Budapester. Schnell haben Oskars Finger das Handgelenk seines Freundes losgelassen.
    »Willst du den ganzen Abend auf mich eindreschen«,
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