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Schilf

Schilf

Titel: Schilf
Autoren: Juli Zeh
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Oskar einander niemals verlieren würden.
    Als sie ihre Doktorarbeiten verteidigten, trafen sie sich schon lange nicht mehr am Ufer der Dreisam, sondern gelegentlich auf einen Scotch in den klobigen Sesseln einer Bar. Nirgendwo teilten sie mehr dieselbe Meinung, außer in der Frage, wer von ihnen der bessere Physiker sei. Das war Oskar, und nachdem diese einverständliche Überzeugung durch Oskars summa cum laude besiegelt war, tauschte Sebastian den Cutaway gegen Jeans und Hemd und heiratete.
    Die Hochzeitsgesellschaft sprach hinter vorgehaltenen Händen über den Trauzeugen, der an den Wänden des Festsaals entlangschlich und mit seiner dunklen Gestalt persönlich für die Schatten in den Ecken verantwortlich schien. Seine Miene behauptete, sich niemals im Leben so köstlich amüsiert zu haben. Statt eines Schleiers, erzählte er den peinlich berührten Gästen, hätte Sebastian seiner Braut eine grüne Lampe aufsetzen sollen. Bei Notausgängen gehöre sich das so.

4
    I ch wette eine Kiste Brunello «, sagt Oskar, »dass man dich ohnehin nur aus Anlass der Zeitmaschinenmorde um deinen Artikel gebeten hat.«
    Sebastian schweigt. Dass es so gewesen ist, liegt auf der Hand. Es ergibt sich schon aus dem Inhaltsverzeichnis: Freiburger Professor erklärt die Theorien des Zeitmaschinenmörders. Sebastian hat sich sogar bemüht, einige Wendungen in seinen Beitrag einfließen zu lassen, die aus dem Geständnis des Täters stammen. Nach der Tötung von fünf Menschen hatte der junge Mann ausgesagt, es habe sich keineswegs um Mord, sondern um ein wissenschaftliches Experiment gehandelt. Er sei aus dem Jahr 2015 angereist, um die Viele-Welten-Interpretation zu beweisen. Diese betrachte die Zeit nicht als fortlaufende Linie, sondern als einen ungeheuren Stapel von Universen, der sich mit jedem Augenblick vergrößere, als eine Art Zeit-Schaum aus unendlich vielen Blasen, weshalb eine Reise in die Vergangenheit keine Rückkehr in ein früheres Stadium der Menschheitsgeschichte darstelle, sondern einen Wechsel zwischen den Welten. Folglich sei es problemlos möglich, in die Vergangenheit einzugreifen, ohne dadurch die Gegenwart zu ändern. Er könne bezeugen, dass sich sämtliche seiner Opfer im Jahr 2015 wohlauf und bei bester Gesundheit befänden. In der Welt, der er angehöre, fehle es also an Ermordeten und dementsprechend auch an einem Verbrechen, und der Gerichtsbarkeit des Jahres 2007 fühle er sich, so leid ihm das tue, nicht unterworfen. Den Rat seines Anwalts, auf Unzurechnungsfähigkeit zu plädieren, lehnte der junge Mann entrüstet ab.
    »Und da schreibst du im SPIEGEL etwas zusammen«, sagt Oskar, »das über die Ideen dieses Wahnsinnigen noch hinausgeht.«
    »Dass ein Wahnsinniger zwangsläufig unrecht hat, ist mir neu.«
    »Was dich antreibt, ist nicht einmal Wahnsinn. Es ist der Wunsch«, Oskar weist über die Schulter in den Raum, »eine ganz bestimmte Realität zu relativieren.«
    »Sei still«, zischt Sebastian. »Es reicht.«
    Am anderen Ende des Esszimmers hat sich Maike vornübergebeugt und hält Liam an den Handgelenken. Sie sagt etwas zu ihm und zieht ihn immer wieder zu sich heran, während er das Gesicht zur einen und zur anderen Seite wendet. Das Haar hängt ihr in die Stirn, als sie aufschaut, um Sebastian anzulächeln.
    »Ich weiß genau, worüber ihr sprecht«, ruft sie. »Es gibt ein Paralleluniversum, in dem Liam sich nicht weigert, den Tisch zu decken.«
    »Genau«, sagt Sebastian freundlich.
    »Und eins, in dem Oskar nicht so wütend guckt.«
    »Das bleibt zu hoffen.«
    »Und vielleicht auch eins, in dem ich nicht deine Frau bin und Liam nicht dein Sohn?«
    Sie lacht, weil Sebastian verstört guckt. Die potentielle Halbwaise hat sich losgerissen, rennt um den Tisch und verschwindet, von Maike gejagt, auf den Flur.
    »Du bist süchtig nach anderen Welten«, sagt Oskar leise. »Nach der Vorstellung, zwei verschiedene Männer zugleich sein zu können. Mindestens.«
    Sebastian zwingt sich, den Vorhang loszulassen, den er die ganze Zeit befingert hat und am liebsten mit einem Ruck von der Stange reißen würde. Knapp an seiner Schulter vorbei schnellen Oskars Finger die ausgerauchte Zigarette aus dem Fenster. Sogleich kommen Bonnie und Clyde an den Spitzen zweier Wellendreiecke übers Wasser gerannt, um enttäuscht mit den Schnäbeln nach der ertrinkenden Kippe zu stoßen.
    »Erinnerst du dich an jene Welt«, fragt Oskar, »in der du folgenden Satz zu mir gesagt hast: Ich will der Boden sein, der
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