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Schilf

Schilf

Titel: Schilf
Autoren: Juli Zeh
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wenige sind in der Lage, das so genau zu begründen wie er. Dass sie alle bloß aus Protonen, Neutronen und Elektronen gemacht sind, könnte er noch verzeihen. Nicht verzeihen kann er ihre Unfähigkeit, diese traurige Tatsache mit Fassung zu tragen. Wenn er an seine Kindheit denkt, sieht er sich, vierzehnjährig, von einer Gruppe lachender Mädchen und Jungen umringt, die mit ausgestreckten Fingern auf seine Füße zeigen. Er hatte damals, ohne Zustimmung der Eltern, sein Fahrrad verkauft, um dafür sein erstes Paar rahmengenähter Schuhe zu erwerben; vorsichtshalber gleich drei Nummern zu groß. Seine Verachtung für taktloses Gelächter ist ihm bis heute geblieben. Er verabscheut Wichtigtuerei, das Auftrumpfen und die Schadenfreude der Dummen. Aus seiner Sicht ist keine Gewalttat so grausam wie ein Verbrechen gegen den guten Stil. Sollte er jemals (was durchaus nicht geplant ist) einen Mord verüben, dann vermutlich wegen einer aufdringlichen Bemerkung seines Opfers.
    Der Spott seiner Schulkameraden endete abrupt, als er mit sechzehn eine Körpergröße von 1,90 Meter erreicht hatte. Stattdessen begann man, um seine Aufmerksamkeit zu buhlen. Auf dem Schulhof wurde lauter gesprochen, wenn er in der Nähe stand. Hatte sich ein Mädchen im Unterricht gemeldet, dann schaute es beim Sprechen zu ihm hinüber, als wollte es sich vergewissern, ob er auch zuhöre. Selbst der Mathematiklehrer, ein ungepflegter Mensch, dessen Nackenhaar auf den Hemdkragen stieß, gewöhnte sich an, in Oskars Richtung »Das stimmt doch?« zu fragen, wenn er den kreidebrechenden Punkt hinter eine Zahlenreihe setzte. Dennoch war Oskar nach dem Abitur der Einzige seiner Klasse, der noch keine Erfahrungen mit angewandter Nächstenliebe gesammelt hatte. Er betrachtete das als Sieg. Er war überzeugt, dass es auf der ganzen Welt keinen Menschen gebe, dessen Anwesenheit er länger als zehn Minuten ertragen könnte.
    Die Größe dieses Irrtums machte ihn schwindeln, als er an der Universität auf Sebastian traf. Dass sie einander schon am Eröffnungstag des neuen Semesters bemerkten, war ihrer Körperhöhe geschuldet. Über die Köpfe der anderen Studenten hinweg begegneten sich ihre Blicke, und es ergab sich fast automatisch, dass sie im Hörsaal nebeneinander Platz nahmen. Die peinliche Ansprache des Dekans erduldeten sie schweigend. Danach begannen sie auf dem Gang eine lockere Unterhaltung, und als zehn Minuten vergangen waren, hatte Sebastian noch nichts Einfältiges gesagt und kein einziges Mal töricht gelacht. Oskar ertrug nicht nur seine Gegenwart, sondern verspürte sogar Lust, das Gespräch fortzusetzen. Sie gingen in die Cafeteria und redeten bis zum Abend. Von diesem Moment an suchte Oskar die Nähe seines neuen Bekannten, und Sebastian ließ es geschehen. Ihre Freundschaft brauchte keine Anlaufzeit; nichts musste sich entwickeln. Sie ging einfach an wie eine Lampe, wenn man den richtigen Schalter drückt.
    Jeder Versuch, die folgenden Monate zu schildern, läuft Gefahr, sich im Großartigen zu verlieren. Seit sich Oskar für ein Studium an der Universität Freiburg entschieden hatte, zeigte er sich der Öffentlichkeit nur noch in einem Cutaway mit langschößiger Jacke, gestreiften Hosen und silberner Halsbinde. Es dauerte nicht lang, bis Sebastian in ähnlichem Dandykostüm zu den Vorlesungen erschien. Jeden Morgen gingen sie in der Grünanlage vor dem Physikalischen Institut wie an Schnüren gezogen aufeinander zu, vorbei an Studenten sämtlicher Semester, die nur auf der Welt waren, um ihnen im Weg zu stehen, und begrüßten sich mit Handschlag. Sie kauften von jedem Lehrbuch nur ein Exemplar, weil sie es mochten, die Köpfe über einer aufgeschlagenen Seite zusammenzustecken. In den Hörsälen blieben die Plätze neben ihnen leer. Man fand ihren Aufzug seltsam und lachte doch nicht darüber, nicht einmal, wenn sie an den Nachmittagen untergehakt am Ufer der Dreisam spazieren gingen und alle paar Schritte stehen blieben, weil Wichtiges nur im Stehen gesagt werden kann. In ihrer altmodischen Garderobe glichen sie einer vergilbten Postkarte, als wären sie sorgfältig, aber nicht nahtlos in die Gegenwart geschnitten. Das Brausen der Dreisam fraß an ihrer Unterhaltung; aufgeregt winkten die Bäume im Wind. Nie war die Spätsommersonne schöner als in dem Augenblick, da einer von ihnen auf sie zeigte und etwas über solare Neutrinoprobleme sagte.
    Abends trafen sie sich in der Bibliothek. Oskar flanierte an den Regalen entlang und
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