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Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein

Titel: Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
Autoren: Michael Winterhoff
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Ein Wort vorweg – Warum ich dieses Buch schreibe
    Vielleicht kennen Sie das: Der Tag neigt sich dem Ende entgegen, die Arbeit ist getan, die Kinder sind im Bett, Ruhe kehrt ein. Ruhe? Keineswegs. Objektiv mag um Sie herum zwar Ruhe herrschen, doch in Ihnen rotiert etwas immer weiter. Die Gedanken lassen Sie nicht los, Gedanken an den abgelaufenen Tag, Gedanken an den neuen Tag, seine Anforderungen, den zu erwartenden Stress.
    Dieser Zustand, der für Menschen in speziellen, krisenbehafteten Lebensphasen nicht ungewöhnlich ist, scheint zum Beginn des 21. Jahrhunderts von der Ausnahme zur Normalität geworden zu sein. Bücher erscheinen, Zeitschriften produzieren Geschichte um Geschichte, Sonderheft um Sonderheft, die Arztpraxen sind voll mit Patienten, welche die Symptomatik zeigen, um die es in den Büchern und Heften geht. Namen hat das Leiden, von dem die Rede ist, viele: Depression, Burn-out, Stress, Mega-Stress, Erschöpfungssyndrom, um nur einige zu nennen.
    Wie auch immer man es nennen und voneinander abgrenzen mag: Das Gefühl der persönlichen Überforderung ist eines der Krisensymptome der modernen Gesellschaft.
    Für viele Menschen beschränkt sich das nicht auf die abendliche Gedankenrotation. Überlegen Sie selbst: Fühlen
Sie sich überdurchschnittlich oft gehetzt, von einer unsichtbaren Kraft immer weiter getrieben, ohne Möglichkeit, zwischendurch zur notwendigen Ruhe zu kommen? Tun Sie sich schwer, selbst kleine Entscheidungen schnell zu treffen, weil Sie Angst vor den Auswirkungen haben? Haben Sie immer häufiger die Befürchtung, die Arbeit nicht zu bewältigen oder den Anforderungen Ihres privaten Umfeldes nicht gerecht werden zu können? Wer sich umhört im Bekanntenkreis, auf andere Menschen achtet, in sich selbst hineinhorcht, merkt schnell: All diese Fragen sind mehr oder weniger rhetorischer Natur, sehr viele Menschen haben heute das Gefühl, ständig nur noch Listen abarbeiten zu müssen und den täglichen Anforderungen kaum nachkommen zu können.
    Das Auftreten von Überforderungssymptomen, von Stresssituationen ist indes natürlich nicht neu und auch nicht der Anlass für mich, mich damit zu befassen. Die meisten Menschen erleben persönliche Krisen, in denen diese Symptome vollkommen normal sind. Das kann das Ende einer Liebesbeziehung genauso sein wie der Tod eines nahestehenden Menschen, eine schwere Erkrankung oder andere schlimme Dinge. In diesen Krisenzeiten ist es für den Einzelnen ganz normal, nicht zur Ruhe zu kommen, sich mit dem Alltag überfordert zu fühlen und irgendwie neben sich zu stehen. Das ändert sich in der Regel, wenn diese persönliche Krise überwunden ist, die Normalität wieder in den Fokus rückt und der Stress nachlässt.
    Davon ist in diesem Buch aber nicht die Rede. Mir geht es um einen Dauerzustand, eine Krise ohne ganz konkreten individuellen Anlass, die nach und nach immer mehr Menschen in unserer Gesellschaft erreicht und sich damit auf diese und nachfolgende Generationen auswirkt.

    Damit ist auch der Grund benannt, warum ich als Kinderpsychiater dieses Buch schreibe. Für individuelle Lebenskrisen von Erwachsenen wäre ich zunächst einmal gar nicht »zuständig«. Das gesellschaftliche Krisensymptom, das ich hier analysiere, wirkt sich aber auf unser Verhältnis zu Kindern aus, auf die Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen, seien es Eltern, Großeltern, pädagogisch tätige Menschen wie Lehrer oder Erzieherinnen oder alle anderen, die mit Kindern umgehen.
    Wir alle lieben Kinder, und ich habe nicht zuletzt aus dieser Tatsache heraus auch meinen Beruf ergriffen. Es ist schön, Kinder zu haben, und ohne sie ist eine Gesellschaft weder denkbar noch überlebensfähig. Trotzdem erleben wir in den letzten Jahren einen Trend der öffentlichen Berichterstattung über Kinder, in denen diese vor allem als Problemfälle erscheinen.
    Dafür gibt es handfeste Gründe. Die Zahl der emotional und sozial auffälligen Kinder und Jugendlichen steigt in der Tat in besorgniserregendem Maße. Sahen Grundschullehrer vor 20 Jahren in ihrer Klasse einen kleinen Teil auffällige Kinder, während der Rest sich auf einem altersgemäßen Entwicklungsniveau befand, so haben sich heute oft die Verhältnisse umgedreht. In Grundschulen gehört es heute zum ganz normalen Alltag, dass die ersten Monate nach der Einschulung weniger damit angefüllt sind, mit dem Erlernen des Lesens, des Schreibens, des Rechnens zu beginnen. Bevor es soweit ist, müssen Lehrer sich zunächst
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