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Schilf

Schilf

Titel: Schilf
Autoren: Juli Zeh
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Moment vergessen hat – weil sie so absurd war, oder weil es ihm inzwischen egal wäre, wenn sich Julia in Rauch verwandeln würde.
    Sebastian sieht sich im Zimmer um und sagt etwas Freundliches über die Wohnung, das nicht stimmt. Der Kommissar postiert seine Freundin in der offenen Küche mit dem Rücken zur Wand und bedeutet Sebastian, die Kühlbox heranzubringen. Schließlich hat Schilf nicht nur einen Mörder mitgebracht, sondern noch etwas Spezielles, das gewissermaßen dem Mörder gehört. Letzteres muss dringend ins Tiefkühlfach.
    »Picknick?«, fragt Julia.
    Sie redet weiter, immer im Scherz, von Eiscreme und kühlem Bier, während Schilf den blauen Deckel abhebt. Dabbelings Anblick lässt Julias Stimme in den Hintergrund rücken, als hätte man ihr den Ton leiser gedreht. Die Gesichtshaut hat sich beim Trocknen über den Knochen zusammengezogen, so dass die Augen erstaunt offen stehen, als führe der Radfahrer bis in alle Ewigkeit auf ein gespanntes Drahtseil zu. Die Nase steht schief, der Mund ist zu einem bösen Grinsen verzogen. Unten ragen die Halswirbel weiß und sauber wie ein Haltegriff aus dem gekappten Schlauchgewirr. Sebastian drängt sich dazwischen, er will den Kopf seines Opfers selbst aus der Tasche heben.
    »Vorsicht«, sagt Schilf. »Den hält nur noch die Kopfhaut in Form.«
    Als sie in der Gerichtsmedizin neben der großen Aluminiumschublade standen, hat Sebastian sich tief hinuntergebeugt, wie um sein Opfer zu küssen. Dann hat er den Kommissar angesehen, aus Augen, die flüssig glänzten. Danke, sagte er. Was auch immer Sie vorhaben, mich haben Sie in dieser Sekunde vor dem Wahnsinn gerettet.
    Obwohl Sebastian behutsam zufasst, grimassiert Dabbeling unwillig zwischen seinen Händen. Schnell prüft Schilf die Miene seiner Freundin, die unverwandt auf den Kopf des Toten schaut, in diese dreidimensionale Karikatur, die einmal ein lebendes Gesicht gewesen ist. Julia sieht nicht aus, als hätte sie vor, hysterisch zu werden.
    »Das ist es also, was übrig bleibt«, sagt sie.
    Schilf nickt ihr zu. Es erleichtert ihn, plötzlich wieder genau zu wissen, warum er seine Freundin von Anfang an gemocht hat.
    Weil Dabbeling nicht ins Gefrierfach passt, kratzen sie die Eisklumpen mit Messern von den Kühlstäben. Danach sind alle bestens miteinander bekannt. Julia kocht einen Topf Spaghetti, Sebastian deckt den winzigen Tisch. Beim Essen vermeiden sie alles, was mit Dabbeling, Oskar, Maike und Liam oder der bevorstehenden Nacht zu tun haben könnte. Als gemeinsames Gesprächsthema bleibt der Medizinerskandal. Chefarzt Schlüter wurde vom Dienst suspendiert, nicht wegen Körperverletzung mit Todesfolge, sondern wegen mangelhafter Überwachung des Personals. Sofort hat die altbekannte Debatte über die schlechte finanzielle Ausstattung der Krankenhäuser begonnen. Schlüter wird seine Karriere an einem anderen Ort fortsetzen. Der Rest ist Politik. Sie reden wenig. Schilf ist der Einzige, der einen zweiten Teller nimmt. Ihm kommt es vor, als hätte ihm noch keine Mahlzeit zuvor so gut geschmeckt.
    Nach dem Abendessen hat Julia darauf bestanden, ins Bett zu gehen. Warum soll man ewig am Tisch sitzen und schwere Gedanken wälzen, wenn man genauso gut ein paar Stunden schlafen und zur vereinbarten Stunde wieder erwachen kann? Schilf beneidet sie um ihre Seelenruhe. Kaum lag ihr Kopf auf dem Kissen, ist sie wie auf Knopfdruck eingeschlafen. Aufgrund der Fähigkeit, ihrem Körper unmissverständliche Befehle zu erteilen, beherrscht sie das Einschlafen genauso gut wie das stundenlange Stillsitzen in einem Aktzeichenkurs. Das Phänomen der Schlaflosigkeit sei ihr unbegreiflich, hat sie dem Kommissar einmal erklärt. Man müsse sich doch nur auf die Seite drehen und sich mit einem temporären Tod einverstanden erklären.
    Auf einen Ellenbogen gestützt, sieht Schilf seiner Freundin beim Schlafen zu. Sie hat sich von der Decke frei gestrampelt und umklammert noch einen Zipfel, mit dem sie Schultern, Hals und einen Teil des Gesichts bedeckt. Dabei gleicht sie keineswegs einer ausgeschalteten Apparatur, die bei Tag dazu dient, den Kommissar an der Nase herumzuführen. Gleichmäßig atmend liegt sie eingebettet in die eigene Schlafwärme wie ein kleiner Planet in seine Atmosphäre. Je länger der Kommissar sie betrachtet, desto deutlicher meint er, ein Wunder vor sich zu haben. Wie kann das sein: ein in sich geschlossener Kreislauf, der außer Nahrung alles mitbringt, was er zum Leben braucht!
    Das Staunen
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