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Schiffstagebuch

Schiffstagebuch

Titel: Schiffstagebuch
Autoren: Cees Nooteboom
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Purgatorio , XXII. Gesang, 118): »Und vier der Mägde schon des Tages waren / Zurückgeblieben und die fünft‘ am Steuer, / Streckend zur Höhe noch die glühende Deichsel«, da klärt mich der Kommentar zu meiner Übersetzung von 1940 auf, daß es folglich die fünfte Stunde des Tages ist. Ich muß nicht nur nachschlagen, wer diese Mägde sind, sondern auch noch, was eine Deichsel ist. Doch auch bei mir ist es früher Morgen, und die Welt gleicht dem Fegefeuer, denn es rücken Wolken an, schwere bleierne Luftmaschinen, die die Nacht verlängern wollen und zu unserem Ziel passen: Heute werden wir Kap Hoorn umrunden. Zwei Niederländer haben diesem Kap den Namen ihrer Stadt an der Zuiderzee gegeben, Schouten und Le Maire. Als es soweit ist, darf ich auf die Brücke, ein Jungentraum. Dieses Meer ist berüchtigt, in Ushuaia habe ich ein Buch über Schiffbrüchegekauft, endlose Listen von Galeonen, Karavellen, Dampfschiffen und Jachten, die in diesem Gebiet zwischen dem Atlantischen und dem Pazifischen Ozean untergegangen sind. Das Wasser sieht düster genug aus, metallfarben, als wäre Schwarz hineingemischt, ich höre, wie es wild und weißschäumend gegen den Kiel schlägt. Unter einer grauen Felswand sehen wir eine große Jacht mit hohen braunen Segeln, unser Kapitän betrachtet sie voller Bewunderung. Er steht zwischen zwei Assistenten, eine Dreiermannschaft, die über die Wasserfläche späht, auf der nichts zu sehen ist. Sie stehen vor einer Batterie Computerschirme, doch sie schauen über sie hinweg auf die wilde See hinter den großen Fensterscheiben. Metamorphose: gestern abend Captain‘s Dinner, schwarze Krawatte zur Galauniform mit dem Stern und den vier goldenen Streifen, 2003er Eitelsbacher Karthäuserhofberg, in Ingwer und Honig hausgebeizter Lachs auf Salat von Bambussprossen, Porzellan und Kristall, jetzt ein grober Pullover und ein Becher Kaffee, Herr über die wilde graue Fläche, Gesichtsausdruck: bereit für Abenteuer. Der Kapitän ist Leser, das gestrige Gespräch kreiste um Gombrowicz‘ Buch Trans-Atlantik und Billy Budd von Melville, beide sehr passend. Rüdiger hat einen Satz von Gombrowicz aus diesem Buch in sein Repertoire übernommen, ein mit Crescendo dreimal wiederholtes »Ich gehe! Ich gehe!! ICH GEHE!!!« Er bedauert, daß er Billy Budd erst jetzt liest, diese Geschichte hätte er gern für sein Buch über das Böse verwendet, und er will wissen, was der Kapitän getan hätte: In dem Buch wird der »hübsche« junge Matrose von einem anderen zum Bösen verleitet, und der Kapitän, der ihn sehr mag, muß ihn verurteilen. Kommt so etwas noch immer vor, will er wissen, doch die Antwortist enttäuschend für den Romantiker, und so versucht der Kapitän ihn mit der Geschichte von Slocum zu trösten, der als erster ganz allein in seinem kleinen, selbstgebauten Schiff das Kap umrundete. Ich höre leise Kommandos, slowly, slowly, dann: »Wollen wir jetzt eindrehen, da vorne ist nichts mehr.«
    Auf den Tischen Seekarten, jemand arbeitet mit Zirkel und durchsichtigem Plastikdreieck, Kap Hoorn ist nicht eine Insel, sondern eine ganze
     Gruppe, das Meer darum herum ist übersät mit kleinen Zahlen, hinter mir sehe ich in kleinen Kästchen die Flaggen aller Länder der Erde, die sie anlaufen,
     dieses Schiff fährt unentwegt um den Globus. 970 Millibar, höre ich, Windstärke 8. Fünf Männer und eine Frau sind schwer beschäftigt, ich komme mir
     überflüssig vor und gehe an Deck, wo der Wind mich beinahe umbläst. Fast vierhundert Jahre ist es her, daß Schouten und Le Maire hier fuhren. Ich versuche
     es mir vorzustellen. Das Kap, das sie von ihrem kleinen Schiff aus gesehen haben müssen, ragt wie damals düster aus dem Meer auf, kein Zeichen einer
     menschlichen Anwesenheit, damals nicht und heute nicht. Irgendwo muß es einen Leuchtturm geben, eine Wetterstation, in der eine Familie wohnt, doch das
     ist von hier aus nicht zu sehen. Nebel oder tiefhängende Wolken hüllen die dunkle, drohende Form ein, hinter diesem einen Berg liegen andere, niedrigere,
     auf der Brücke habe ich gesehen, daß wir zwischen den Inseln Herschel und Deceit durchfahren, wir befinden uns auf der Grenze zwischen Pazifischem und
     Atlantischem Ozean, hier in der Nähe muß zwischen Feuerland und Staateninsel die Passage liegen, die noch heute den Namen Le Maire trägt. Die Strömung
     verläuft dort in nord-südlicher Richtung und kann an Geschwindigkeit zwischen zwei und sechs Knoten schwanken, je nachdem, ob
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