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Schiffstagebuch

Schiffstagebuch

Titel: Schiffstagebuch
Autoren: Cees Nooteboom
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des Windes. Draußen die Lichter der Stadt, ein Auto, und als ich mit meinem Fernglas den Kai
     absuche, ein paar nächtliche Passanten. Der Mond wird auf zwei Seiten von schwarzen Wolkenfetzen angefressen, das Wasser sieht aus wie geschliffen, in der
     Ferne die vage Form des Schleppers Saint Christopher , der in den fünfziger Jahren hier im Hafen gestrandet ist. Im Mondlicht sehe ich jetzt auch
     die schneebedeckten Berggipfel in der Ferne. Still ist alles, und ich überdenke meinen Tag. Mit einem Bus sind wir in einen Naturpark nördlich der Stadt
     gebracht worden, dort habe ich mich von der Gruppe getrennt und bin spazierengegangen. Widersprüche – ein Naturpark, in dem die Fahrer den Motor ihres
     Busses wegen der Klimaanlage laufen lassen. Es paßt nicht zu der Stille. Einen Fischadler habe ich gesehen, dann wieder ein merkwürdig sumpfiges Gebiet,
     grellgrüne Grasbüschel im Wasser, aus dem abgestorbene Bäume ragten, die Ruine eines Waldes. Ich weiß nicht, wieviel Zeit ich habe, bevor die Busse
     zurückfahren, und marschiere auf gut Glück los. Ein schmaler Weg, der mäandernd mehr oder weniger einem kleinen Fluß folgt, der Gedanke, so vielleicht
     tagelang weitergehen zu können, und dann plötzlich ein Zeichenaus der Wirklichkeit, ein Schild, das sagt, hier ist die Grenze zu
     Chile.
    Auf Reede in Ushuaia
    Nirgends Wächter, es gibt keinen Schlagbaum, warum bleibe ich dann stehen? Vielleicht weil sich an einem solchen Ort die Vorstellung davon, was eine
     Grenze eigentlich ist, stärker als irgendwo sonst aufdrängt. Auf dieser Reise war ich schon in Chile, das kann es nicht sein. Nein, es ist eher die
     Tatsache, daß man da in einem Wald steht, die Vögel hört, die Wolken ohne Paß vorbeisegeln sieht, einem Wald, in dem die Bäume einander gleichen und in
     der Luft keinerlei Widerstand zu spüren ist, der einen am Weitergehen hindern würde, und dabei weiß, daß einen Meter weiter nicht Kirchner regiert,
     sondern Bachelet, daß dort andere Gesetze gelten, aber auch, daß die Vergangenheit dort genauso grauenhaft war wie hier. Menschen aus Flugzeugen geworfen
     auf dieser Seite, Operation Condor auf der anderen, über die ganze Welt Exilanten verstreut, die nicht mehr konnten, was ich jetzt kann, wo niemand mich
     sieht: hin und her gehen und von der einen Staatsform in die andere wechseln, als bedeute das nichts. Aber genau das ist es, nichts, und ich gehe zu
     meinem Bus zurück und dann auf einen Katamaran, der zur Isla de los Lobos segelt, wo wir Seelöwen, Pinguine und Kormorane beobachten, denen ihre eigene
     Welt genügt. Wie große braune Wollballen liegen die Seelöwen in der Sonne, und natürlich schauen sie nicht zu uns. Der Felsen, auf dem sie sich
     niedergelassen haben, sieht aus, als hätte jemand ihn mit einem Messer bearbeitet und geometrische Figuren mit einer Botschaft hinterlassen, die wir nicht
     entziffern können. Die Pinguine stehen nicht weit von den schlafenden Löwen entfernt, wie Diener in Livree, die den Schlummer ihrer Herren nicht stören
     dürfen. Der Felsen wirft das Sonnenlicht weiß zurück, darunter grünes Moos, im Hintergrund die Berge mit ihren Drachenzähnen, weiß vom
     Schnee, und für einen Augenblick weiß man nicht mehr, warum das hier Feuerland heißt.

     
    Weitergefahren durch den Beagle-Kanal, das eine Ufer Argentinien und die Ausläufer der Cordillera de los Andes, das andere Chile und die auf der Karte völlig menschenleere, riesengroße Isla Navarino. Geankert in Puerto Williams. Im Schlaf merke ich, daß das Schiff ständig dreht.Als ich davon aufwache und an Deck gehe, stehe ich unter der Uhr des Alls. Wenn man zu Dantes Zeit an den Sternen erkennen konnte, wie spät es war, warum kann ich das dann nicht? Für Dante war das Fegefeuer ein Berg mitten in dem Meer, das die gesamte südliche Hemisphäre bedeckte, genau gegenüber der nördlichen Hemisphäre mit Jerusalem als dem Mittelpunkt der bewohnten Erde. Und weil im Fegefeuer nur Schemen hausten, war er der erste lebende Mensch, der seit Adam und Eva die Sterne dort sehen konnte. Vier sieht er, das Kreuz des Südens, und wie gut er und seine Zeitgenossen den kosmischen Himmel im Kopf hatten, beweist er, als er sagt, die aufgehende Sonne verberge die Fische und wenn er zum anderen Pol schaue, sei der Wagen bereits verschwunden – der Himmel als Uhrwerk. Verwaist nennt er den Norden, wo seine Zeitgenossen leben, die dies, im Gegensatz zu ihm, nie erblicken werden. Und als er erklärt (im
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