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Schiffstagebuch

Schiffstagebuch

Titel: Schiffstagebuch
Autoren: Cees Nooteboom
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Wasser aus einer Zeit vor Platon, Homer, Aristoteles, Christus? Bewahrte Zeit trinke ich. Altes Wasser.
     
    In meinem Tagebuch finde ich eine Notiz, aber ich kann wieder einmal meine eigene Schrift nicht lesen, so daß die erste Hälfte der Zeile entfällt. Möglicherweise steht da: »Chaotisch geschlafen. Ein Satz ist mir noch in Erinnerung. Jeder spricht immer in Übersetzung.« Dünung, Morgen. Das Leben an Bord gleicht dem in einem Internat oder einer Kaserne, der sanfte Zwang der Uhr. Abendessen in einem der Restaurants, später ein Drink in der Bar »Zum Alten Fritz«, die einer vornehmen Hamburger Hafenbar gleicht, stilecht mit einem Standbild des großen Preußenkönigs. Man sieht immer wieder dieselben Gesichter, aber keiner behelligt einen. Das Deck ist dunkel vom Regen, niemand liegt in den Liegestühlen, ein paar Leute beugen sich über die Reling und werden naß.
    Wir nähern uns Ushuaia, der südlichsten Stadt Argentiniens und damit auch der südlichsten Stadt der Welt. Ich sehe Kriegsschiffe an einem Kai und ein
     ankerndes Schiff namens Antarctic . Dies ist der Ausgangshafen für Fahrten zum Südpol, und das spürt man. Wir befinden uns im argentinischen Sommer,
     aber kalte Windböen mit Regen fegen über den Kai. Warum ist das so aufregend, in der südlichsten Stadt der Welt zu sein? In der Ferne verschneite Berge,
     eine senkrechte Linie bis zum Beagle-Kanal, der Argentinien von Chile trennt, etwas, das aussieht wie auf dem politischen Zeichenbrett entstanden, willkürlich und unnatürlich verläuft diese Linie durch Flüsse und leere Landschaften, womöglich auch durch Fuchsbautenund Eulennester. Ushuaia liegt am Kanal, das heißt zwar am Wasser, aber nicht am Meer, eigentlich ein wenig versteckt zwischen der Sierra Sorondo und dem Parque Nacional Tierra del Fuego. Bucht, die das Land bis in den Westen durchdringt, bedeutet Ushuaia in der Sprache der Yámana. Unmittelbar südlich des Kanals beginnt Chile wieder, die Isla Navarino, dann die Nassau-Bucht, darunter die Islas Wollaston mit Kap Hoorn. Ausnahmegebiet, das hat mich immer gelockt. Das Argentinische Meer, der Südpazifik, der Atlantische Ozean und darin die Falklandinseln, die hier Islas Malvinas heißen, und dann, auf meiner Karte, das scharf umrissene Dreieck des antarktischen Argentinien bis zum Südpol.
    Ushuaia ist nicht groß, 40 000 Einwohner. Es existiert erst seit 1870, eine weitab gelegene Provinzhauptstadt, 3500 Kilometer von Buenos Aires
     entfernt, Marinestützpunkt und früher auch Strafkolonie, wieder so ein Ort, an dem man Menschen verwahrt, die man nicht in seiner Nähe haben will. Auf den
     Autobus des Museo Marítimo sind sie gemalt, die politischen Gefangenen in ihren gestreiften Anzügen; von ihrem Schicksal berichtet das Museum vom Ende der
     Welt, das noch geschlossen ist, die Dokumente genauso unsichtbar wie die in die Wand gemauerten Fernsehdokus in der Zeitkapsel gegenüber dem ACA-Hotel,
     die erst im geheimnisvollen Jahr 2492 einer unvorstellbaren Nachwelt zeigen werden, wie unsere Welt aussah. Ich frage mich, ob ich das miterleben wollte,
     und meine, nein. In welchem Alptraum muß ich mir die Wesen vorstellen, die in 500 Jahren diese Wand aufbrechen werden, vorausgesetzt, sie steht dann noch?
     Und wir? Genauso unerkennbar zu etwas Lächerlichem reduziert, in einer wahrscheinlich unverständlichen oder untergegangenen Sprache kakelnd, Menschen, die bereits primitive Maschinen benutzten, selbst aber noch keine Maschinen waren und nicht glauben wollten, daß sie jemals auf dem Mars leben würden und beim Anblick von so viel unbarmherziger Zukunft auf der Stelle vor Entfremdung verrückt würden.
    Auf dem Autobus des Museo Marítimo, politische Gefangene
    Schmale, steile Straßen führen von der Hauptstraße San Martín zum Wasser, kleine, grellbunt gestrichene Häuser aus Holz oder Wellblech, dies ist ein Ort, an dem man ein Jahr bleiben müßte, um ein Buch zu schreiben, und weil das nicht möglich ist, kaufe ich ein paar Bücher über die lokale Geschichte, Berichte von Revolutionen und Schiffskatastrophen. Bar Idéal, Café de la Esquina, Café El Galeón, Hostal Yakiem, Calle San Martín, Calle 25 de Mayo, immerzu diese Daten, die etwas bedeuten, was sich dem Fremden aber nicht sofort erschließt. Es ist eine Grenzstadt,schlammbedeckte Landrover erzählen von unwegsamen Pisten, von der Wildnis gleich um die Ecke, vom Leben am Ende des Festlands, von Fischerei, Schafzucht, Polarexpeditionen, von
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