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Auf der Straße nach Oodnadatta

Auf der Straße nach Oodnadatta

Titel: Auf der Straße nach Oodnadatta
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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NANCY KRESS
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USA
     
Und nichts davon wächst hier
     
    Der Tod ist da des Lebens Nachbar,
    und fern von jedem Aug’ und Ohr
    Wind und Wellen, klamm, sich müh’n;
    Schiff wie Geist schwankt ohne Kraft,
    preisgegeben dem Verfall,
    nicht wissend, wer’s nach drüben schafft.
    Doch hierher wehen solche Winde nie,
    und nichts davon wächst hier.
    Algernon Charles Swinburne,
    »Der Garten Proserpine«
     
    »Dee, ich habe ein Problem«, sagte Perri.
    Dee Stavros hielt das Telefon weg von ihrem Ohr und gähnte herzhaft. Wie spät war es eigentlich, zum Geier? Die Uhr war nachts stehen geblieben: schon wieder ein Stromausfall. Doch draußen vor Dees einzigem Fenster war es noch dunkel. Und die Luft war heiß und stickig.
    »Dee, bist du noch da?«
    »Ich bin noch da«, sagte Dee zu ihrer Schwester. »Und du hast ein Problem. Ganz was Neues.«
    »Diesmal ist es anders.«
    »Es ist immer anders.« Aber im Grunde stimmte das gar nicht. Kaputte Typen als Liebhaber. Ein gewalttätiger Ex. ›Gestohlene‹ Autos. Eine Abtreibung in letzter Minute. Geplatzte Schecks für die längst fällige Miete … Perris wirres Leben änderte sich nur in den Details. Dee gähnte wieder.
    Perri sagte: »Ich wurde verhaftet. Verstoß gegen GVGM«, und Dee war plötzlich hellwach. Sie setzte sich auf die Bettkante.
    »Das Gesetz zum Verbot genetischer Manipulationen.« Das neueste Werkzeug der Gerichtsbarkeit, die neueste Reihe drakonischer Strafgesetze, das Neueste an Verbrechen, um die Aufmerksamkeit einer blutrünstigen Öffentlichkeit zu erregen, die einen Prügelknaben brauchte für … alles. Aber Perri? Die hilflos durchs Leben taumelnde, naive, hirnlose Perri? Unmöglich.
    Der Profi in Dee nahm überhand. »Wo bist du jetzt?«, fragte sie emotionslos.
    »Rikers Island«, antwortete Perri mit einer solchen Erleichterung in der Stimme – alles wird gut gehen, Dee wird wieder einmal hinter mir sauber machen! –, dass Dee Mühe hatte, ihren Ärger im Zaum zu halten.
    »Hast du einen Anwalt?«
    »Nein. Ich dachte, du würdest das mit dem Anwalt übernehmen?«
    Natürlich. Und jetzt, da sie genauer zuhörte, vernahm Dee hinter Perri die ganze wilde, elende Kakophonie von Rikers Island, diesem chaotischen Abfallhaufen, auf dem der ganze kriminelle Müll des noch größeren Haufens Manhattan landete, wo ihm der Prozess gemacht und wo er miserabel behandelt wurde. Aber Perri lebte nicht in Manhattan. Keiner, der es irgendwie vermeiden konnte, lebte in Manhattan. Das letzte Mal, als Dee von ihrer Schwester gehört hatte, war Perri auf dem Weg zu den Meeresstränden von North Carolina gewesen.
    Ausnahmsweise einmal kam Perri Dees Frage zuvor. »Ich glaube, sie haben mich nach Rikers gebracht, weil es sich um ein Delikt auf See handelt. Auf einem Boot. Besser gesagt, einem Schiff … Hau ab, du Schlampe! Ich bin noch nicht fertig!«
    »Verzichte aufs Telefon, Perri«, sagte Dee hastig, »bevor du etwas abkriegst! Du hattest deine zwei Minuten Sprechzeit. Ich komme, so bald ich kann.«
    »Ach, Dee, ich bin …« Das Telefon verstummte.
    Dee stand da und hielt es geistesabwesend in der Hand. Perri war – was? Besorgt? Verzweifelt? Unschuldig? Aber das war Perri jedes Mal, wenigstens in ihrer eigenen Vorstellung. Vielleicht sollte Dee sie einfach dort vergessen und sich ein für alle Mal aus Perris Leben zurückziehen. Perri eine Lektion erteilen. Sie dort allein lassen und zwingen, sich ein einziges Mal selbst durchkämpfen zu müssen …
    Aber Dee kannte Rikers zu gut. Vor weniger als einem Jahr war sie aus dem Polizeidienst geschieden. Sie begann sich anzukleiden.
     
    »Warum ich?«, fragte Eliot Kramer, als er kurz nach dem Morgengrauen an der Tür von Dees Einzimmerwohnung auf der dritten Etage auftauchte. Schmutzige Sonnenstrahlen stachen durch das große südseitige Fenster – neben ihrer Lage am äußeren Rand von Queens statt am inneren das einzig Erfreuliche an der Wohnung. Viele Leute fürchteten die Sonne auch im Inneren ihrer Häuser: ultraviolettes Licht, Hautkrebs – obwohl man ihnen immer wieder versichert hatte, dass Glas den gefährlichen Lichtanteil ausfilterte. Manche Leute hörten eben nie auf das, was man ihnen sagte.
    »Warum du? Weil du der einzige anständige Anwalt bist, den ich kenne.«
    »Zwanzig Jahre bei der New Yorker Polizei, und du kennst nur einen anständigen Anwalt? Komm schon, Dee!«
    »›Anständig‹ in beiden Bedeutungen, Eliot. Für gewöhnlich sind die ethisch einwandfreien inkompetent und die
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