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Schiffstagebuch

Schiffstagebuch

Titel: Schiffstagebuch
Autoren: Cees Nooteboom
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der Tour war die Hälfte infolge von Kämpfen untereinander und anderem Unheil gestorben.
    Wenn ich auf die Karte schaue und mir die nach wie vor wenigen Straßen wegdenke, die es heute gibt, gewinne ich einen Eindruck von den epischen Dimensionen dieser Tour. Die Tehuelche kannten, wie die Aborigines in Australien, den Weg durch die endlosen Weiten dieser wilden Natur, sie wußten, wo sie Wasser finden konnten, das für andere unsichtbar war, wo das Territorium der einen Gruppe begann und das der anderen endete. Zu jener Zeit waren die Indianer noch nicht zurückgedrängt, noch nicht unterworfen, regelmäßig wurden, vor allem von der anderen Seite der Anden aus, malones unternommen, große Raubzüge, bei denen man es in erster Linie auf Pferde und Vieh abgesehen hatte. Musters war der einzige Weiße auf dieser Tour, von den Indianern als Freund akzeptiert, lebte er während dieser zehn Monate so, wie sie lebten, und konnte hinterher viel über ihr Verhalten, ihren Glauben, über die Beziehungen zwischen den weit auseinander lebenden Stämmen berichten. Er wußte auch, daß die Araukaner im Norden sich gegen die Inbesitznahme ihres Landes durch die Fremden bis zum Letzten wehren würden und daß sie »gelernt hatten, das Wort Spanier und das Wort Christ zu hassen«. Nach England zurückgekehrt, schrieb er sein Buch, starb aber bereits im Alter von achtunddreißig Jahren und brauchte somit, was damals noch Zukunft war, nicht mehr mitzuerleben: das weitere Vordringen von Chilenen und Spaniern in das Gebiet seiner geliebten Indianer, die Konflikte zwischen Chile und Argentinien bei der Festlegung ihrer Grenzen – derentwegen am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts sogar der Papst eingreifen mußte – und der heftige Streit beider Länder um Einfluß in Patagonien.
    Magellan, Musters, zwei von vielen Namen, die die Geschichtedes Landes geprägt haben, Reisende, Jäger, Erforscher dieses letzten Stücks Wildnis aus Pampas, Bergen, Flüssen und Inseln, und bis in unser Jahrhundert noch ein leeres Land, in dem man stundenlang reisen kann, ohne jemanden zu sehen.
7
    Früher Morgen. Wir verlassen Punta Arenas. »Eine unvorstellbar traurige Stadt«, schrieb Musters vor rund hundert Jahren, und trotzdem habe ich das Gefühl, irgendwann hierher zurückkehren zu wollen. Auf dem Bildschirm in meiner Kabine verfolge ich, wie das Schiff sehr langsam durch dichten Nebel fährt. Der Ausschnitt scheint sich nicht zu bewegen, ich sehe die ferne Bugspitze, die sich langsam durch die leuchtenden Vorhänge schiebt. Alles unverändert trübselig, als man wieder etwas erkennen kann, ist nichts zu sehen: keine menschliche Behausung, hohe, felsige Berge, später klart es ein wenig auf, mit dem Fernglas kann ich einige Vögel ausmachen, Felsenscharben, die bis zu 80 Meter tief tauchen können, Sturmtaucher, ein rasantes Luftballett.
    Ich gehe auf die Brücke, denn wir nähern uns einem Gletscher. 23 000 Jahre alt, sagt jemand, doch wegen der plötzlich einsetzenden Regenböen sehe ich
     nichts. Das Wasser hat die Farbe von Zink. Ein Boot soll ausgebracht werden, dazu zieht ein großer schwarzer Mann die Persenning von einem der
     Rettungsboote, das dann mit der Winde zu Wasser gelassen wird. Er wird losgeschickt, um »lebendes« Eis zu holen, eine Tradition bei dieser Art
     Seereisen. Von unten höre ich die Stimmen der Matrosen in der großen, kalten Stille. Dann fahren sie weg und schneiden eine breite Furche
     in das reglose Wasser, in dem unzählige Brocken geschliffenen Eises liegen. Der Gletscher selbst wirkt durchscheinend blau, weiter hinten und weiter oben
     ist er weiß mit hohen, senkrecht stehenden zackigen Zähnen. Ist ein Gletscher männlich? Und falls ja, warum? In Tirol sagt man zu Gletschern Kees, was
     bedeuten diese Dinge? Er hängt obszön wie eine große gefrorene Zunge ins Wasser, voller Klüfte und Schrunden, links und rechts davon die Steine und Erde,
     die er an den Seiten hochdrückt.

    Es dauert ein bißchen, bevor mir die Absurdität der Situation aufgeht. Ich befinde mich auf einem Schiff, das zwischen den schroffen Felswänden in diesem eigenartigen Eiswassertal liegt. Die Maschinen stehen auf ›andante‹, doch wir fahren nirgends hin. Das lebende Eis wird auf Gläser verteilt und sieht aus wie Eis, weiß, glänzend, durchsichtig. Als der Whisky darüberschwappt, ergibt sich für einen Moment ein Effekt von flüssigem Goldüber durchsichtigem Silber. Trinke ich jetzt Wasser, das vor 23.000 Jahren gefroren ist?
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