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Schiffstagebuch

Schiffstagebuch

Titel: Schiffstagebuch
Autoren: Cees Nooteboom
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großem Ärger führen sollte. Die anderen Kapitäne wollen einen geschützten Hafen für den Winter aufsuchen, Magellan jedoch will nichts davon hören und setzt seinen Willen durch, obwohl er weiß, daß die Berechnungen, die er anhand seiner Karten angestellt hat, nicht stimmen. Nach einer ersten Landung in Brasilien segeln sie weiter nach Süden und finden am 31. März 1520 eine geschützte Bucht, die sie San Julián nennen; hier wollen sie überwintern. Es muß eine eigenartige Gesellschaft gewesen sein, voller Argwohn und Groll. Die Männer sind seit sechs Monaten fern der Heimat, die Vorräte gehen zur Neige, die Durchfahrt ist noch immer nicht gefunden. Man erwartet ein Drama, und das tritt auch ein.
    Drei Kapitäne, de Quesada, de Mendoza und de Cartagena, rebellieren, sie nehmen Magellans Neffen, Álvaro de Mezquita, auf der San Antonio gefangen und haben nun den Befehl über drei Schiffe. Magellan selbst hat nur noch die Trinidad und die Santiago . Dann aber begehen die drei Meuterer einen folgenschweren Fehler. Sie bitten um ein Gespräch mit dem Kommandanten. Magellan willigt ein, sie entsenden eine Abordnung, die von Magellan sofort gefangengesetzt wird. Daraufhin schickt er den alguacil (Wachtmeister) der Flotte mit einer schriftlichen Botschaft auf de Mendozas Schiff, doch noch während dieser sie liest, sticht der alguacil , Gonzalo Gómez de Espinosa, ihn nieder. Eine kleine Gruppe bewaffneter Männer und ein plötzlich aufkommender Sturm, der die Schiffe aufeinander zutreibt, erledigen den Rest, die Meutererergeben sich und werden vor ein Gericht gestellt, das aus dem Rest der Besatzung besteht. Ich versuche es mir vorzustellen: die wilde patagonische Küste, ein paar Spanier, fünf Schiffe in einer Bucht, ein Prozeß. Das Schafott ist bereits errichtet, das erste in Patagonien, das zu diesem Zeitpunkt noch nicht so heißt. Es geht hier um Hidalgos, und ein Hidalgo hat einen Schildknappen, dessen Aufgabe es ist, seinen Herrn zu beschützen. Das perverse Urteil lautet, daß de Quesadas Schildknappe seinen Herrn enthaupten muß. Tut er es nicht, so bedeutet es seinen eigenen Tod. Er tut es. Danach werden die Leichen des zuvor schon getöteten de Mendoza und die de Quesadas gevierteilt und zur Schau gestellt. Die meisten anderen werden verschont, schließlich muß die Flotte weiter.
    Zwei Monate später kommt es zum ersten Kontakt mit der Bevölkerung, und das wirft ein anderes Licht auf den übergroßen Fuß des unterhalb von Magellan
     sitzenden Indianers, wenngleich das vielleicht nicht so beabsichtigt war. Der Chronist auf dieser Reise ist ein junger Venezianer, Antonio Pigafetta. Er
     war der erste, der von den großen Füßen der Patagonier berichtete, und nicht nur von ihren Füßen – wenngleich sie denen ihren Namen zu verdanken haben –,
     auch vom Rest ihrer Gestalt. Er nennt sie Riesen, und das kam in Europa gut an. Daß sich seine Inspiration denselben Ritter- und Abenteuerromanen
     verdankte, auf die auch Don Quijote so versessen war, ist lediglich ein Teil aller Theorien, die je zum Namen Patagonier ersonnen wurden. Ob sie nun
     wirklich so groß waren – die Durchschnittsgröße der Spanier lag zu jener Zeit bei lediglich einem Meter fünfzig – oder ob sie der Kälte wegen Tierfelle
     an den Füßen trugen, dieses Thema beschäftigt den schreibenden Reisenden jedenfalls noch jahrelang. Wie dem auch sei, der riesige Fuß auf dem windigen
     Platz glänzt im kalten Sonnenlicht wie Petrus‘ Zeh in der Peterskirche zu Rom, und wer hierher zurückkehren will, muß ihn küssen.
    Magellan-Denkmal, Detail
5
    Punta Arenas, Sandecke, in der Zeitung aus der fernen Hauptstadt lese ich Berichte über die Wahlen, die in diesem Jahr (2005) stattfinden werden, und in der Lokalzeitung von den Wechselfällen der Politik in der zwölften Region, die hier Magellanes heißt und sich bis zum Südpol erstreckt, bis in die chilenische Antarktis. Ich befinde mich im tiefsten Süden, doch alles mutet nördlich an, kein Wunder, daß sich die Schotten hier so heimisch fühlten. In Punta Arenas laufen die Schiffe in Richtung Polargebiet aus, doch in den Grassteppen der Umgebung hatten sich im neunzehnten Jahrhundert Schaffarmer niedergelassen, die ihre Wolle in die ganze Welt verkauften und damit unermeßlich reich wurden. Ihre Stadtpalais stehen heute noch und wirken wie Fremdkörper, große Gebäude von viktorianischem Gepräge, manchmal sogar ein wenig albern, wie zum Beispiel das Haus des entfernten
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