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Schiffstagebuch

Schiffstagebuch

Titel: Schiffstagebuch
Autoren: Cees Nooteboom
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andere verschwindet. Auf einem dieser Fotos erkenne ich das Gebiet, durch das ich gefahren bin, in Abstufungen eines Graus, das alles noch trübseliger macht, eine niedrige Berglandschaft, eine Wasserfläche, die aussieht wie aus Stoff, und darauf ein kleines Boot mit zwei menschlichen Gestalten ohne Gesicht. Ihre dunklen Figuren beweisen, daß es Menschen sind, die dort einst, an jenem Tag des Jahres 1898, gefahren sind, doch ihre Gesichter haben sie mitgenommen in die Zeit. Ein Segel hatten sie auf diesem Kanu aus Baumrinde, es ist schief, fast ein Dreieck. Ein sanfter Wind treibt das Boot voran, gern würde ich sein Geräusch im Segel hören, ihre Stimmen in der mittlerweile fast verschwundenen Sprache, die einst von den ersten Missionaren aufgezeichnet und damit bewahrt wurde. Und wieder verirrt man sich in unmögliche Romane, denn einem der Yámana, die von der ersten FitzRoy-Expedition nach England mitgenommen worden waren, Jemmy Button (so genannt, weil er mit zwei glänzenden Knöpfen an Bord gelockt worden war), begegnet man später als Dolmetscher wieder und dann als Mörder. Unmögliche Romane, denn wie sollte man sie sonst nennen? Ein ehemaliger Seemann, Allen Gardiner, der in diesen Gegenden umhergereist war, gründet die Patagonian Missionary Society und möchte eine Missionsstation in Banner Cove, dem heutigen PuertoPabellon, errichten, was wegen der mittlerweile feindseligen Haltung der Yámana jedoch nicht gelingt. Die Missionare sollen nach drei Monaten (! – Zeit spielt stets eine entscheidende Rolle in dieser Art von Geschichten) Proviant aus Montevideo erhalten, doch der trifft nicht ein. Von den Yámana belagert, ziehen Gardiner und die anderen Missionare sich nach Bahía Aguirre zurück, wo sie sterben. Ende des Romans, Beginn des nächsten. Das Schiff mit dem Proviant landet am 20. Oktober 1851 an der vereinbarten Stelle und findet nur eine Nachricht vor, in der der Name des Ortes erwähnt ist, an den Gardiner sich vor dem Hunger geflüchtet hat. Dort stoßen die Seeleute auf drei tote Missionare. Gardiner selbst wird erst 1852 aufgefunden. Sie begraben ihn und geben dem Schoner der nächsten Expedition (Aufgeben kam nicht in Frage) seinen Namen. Der jetzt in ein Schiff verwandelte Gardiner (Ovid hat hier mitgeschrieben) fährt 1855 nach Wulaia, das in anderen Berichten Woolya, Wlaia oder Ulaia heißt und hier als Bucht bezeichnet wird, auf einer alten Karte jedoch eine Insel ist, die der Isla Navarino ähnelt, an der ich morgen vorbeifahren werde. Dort treffen sie auf Jemmy Button und nehmen ihn als Dolmetscher zu der den Falklands (Malvinas) gegenüber gelegenen Insel Keppel mit, um dort eine christliche Gemeinschaft zu gründen. Offenbar fuhr man zwischen Keppel und Ulaia hin und her, denn auf Ulaia findet während eines Gottesdienstes ein Massaker unter Leitung von Jemmy Button statt, bei dem die gesamte Besatzung der Allen Gardiner umgebracht wird. Auf der großen Seekarte an Bord tauchen alle Namen wieder auf. Gardiner, einst ein Seemann, dann ein Missionar, dann ein Schiff, ist jetzt für alle Zeiten eine Bucht zwischen drei anderen Buchten: der Bahía Tekenika,der Bahía Concepción und der Bahía Navidad. Etwas Christliches ist immerhin hängengeblieben.
    Ich werfe einen letzten Blick auf die Fotos in dem Museum. Nackte Menschen, die grau im Grau der Bäume ringsum verschwinden. Eine Frau kauert auf einem Felsen, sie hat die nackten Füße gekrümmt, um auf dem kahlen Stein das Gleichgewicht zu halten. Die Gesichter der Männer, Frauen und sogar der Kinder sind dem Mann mit dem merkwürdigen Gegenstand zugewandt, der auf sie gerichtet ist, ein Zauberding, das ihr Bild für ein späteres Jahrhundert schlucken wird, und ihr Blick zeugt von äußerstem Mißtrauen. Unter dem Foto von dem Boot mit den beiden Menschen und dem schiefen Segel stand: »Die Europäer verändern alle ihre Gewohnheiten: Nahrung, Kleidung, nur nicht ihre Wasserfahrzeuge.« Aber doch ihr Schicksal. Der Untergang dieser Menschen hatte begonnen (1898). Wohin die Yámana auf diesen Fotos im Buch und im Museum blickten, war eine Zukunft, die es nicht geben sollte.
     
    Merkwürdiger noch, als nachts auf einem fahrenden Schiff wach zu werden, ist es, wach zu werden, wenn es nicht fährt. Wir liegen noch
     immer an unserem fernen Kai in Ushuaia. Jedesmal, wenn ich aufwachte, hatte ich das Gefühl, auf hoher See zu sein, und so ist es auch jetzt. Ich schaue
     durch das Bullauge und sehe, daß das nicht stimmt, Täuschung
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