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Schiffstagebuch

Schiffstagebuch

Titel: Schiffstagebuch
Autoren: Cees Nooteboom
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in der Lounge sitzen, als der gesamte Gläserbestand der Bar mit einem wahnsinnigen Kreischen auf
     den Boden kracht. Die Pianistin aus Aserbaidschan, die an diesem Abend ein Chopin-Konzert geben soll, ist nicht zu erschüttern. Elnara Ismailova heißt
     sie, der Saal ist längst nicht voll wegen der Seekranken, und ob der Flügel auch seekrank ist, wird nicht klar, jedenfalls will er weg, am liebsten
     mitsamt dem Klavierhocker. Während ihrer kleinen Einleitung hält sie sich energisch, um nicht zu sagen krampfhaft am Flügel fest, doch es hilft alles
     nichts, zusammen mit dem Podium, dem Flügel und uns wird sie jedesmal hochgehoben, wie ein großes Stück Treibholz taumeln wir durch die inzwischen
     stockfinstere Sturmnacht, und trotzdem gibt sie sich nicht geschlagen, Ballade in F-Dur op. 38, Walzer in cis-Moll op. 64, Scherzo in h-Moll op. 20, alles
     klingt wunderbar, begleitet vom mächtigen Orchester des Sturms. So werde ich Chopin nie wieder hören. Am nächsten Tag erfahren wir, daß das Schiff wegen
     des schweren Seegangs nicht in Puerto Madryn anlegen kann, wir sehen es in der Ferne, ein verführerisch langer Pier, ein paar hohe Gebäude, aber es geht nicht, schade um die Pinguine. Als Trostpreis schenkt man uns Montevideo, was nicht im ursprünglichen Reiseplan stand. Ein kleines Kümo, dessen Namen ich nicht erkennen kann, liegt vor Madryn stampfend auf Reede, es darf, wir nicht, doch dann sehe ich an der Brücke, wie der Lotse sich verabschiedet und einem Tänzer gleich von seiner schwingenden Leiter an Bord seiner sich aufbäumenden Deseada springt, die, eine wilde Schaumspur hinter sich herziehend, in den Hafen zurückjagt. Ich nehme mir vor, von Buenos Aires aus hierher zurückzufliegen, denn wenn ich irgend etwas nicht darf, muß ich es unbedingt tun, eine lästige Eigenschaft.
    Montevideo, Uruguay. Banco de la República
    Eine letzte Nacht auf See. Ich lese in Los héroes malditos , die verdammten Helden, »die Geschichte Argentiniens, die uns nicht erzählt wurde«, ein Buch von PachoO‘Donnell – mitreißende wahre Geschichten, die einem zweierlei klarer machen: erstens, daß das, was wir als magischen Realismus bezeichnen, hier zum normalen Alltagsleben gehört, und zweitens, warum sich bis in unsere Tage eine Spur der Gewalt durch die argentinische Geschichte zieht. Die Unterwerfung der Indianer, der Freiheitskrieg gegen das spanische Imperium, aber auch die Kriege gegen die Engländer und gegen Nachbarländer, Geschichten von Helden und Schurken, nicht umsonst sind in allen diesen Städten Reiterstandbilder von Männern mit gezücktem Schwert anzutreffen. Borges, der von altnordischen Sagen über Krieg und von der dazugehörigen Shakespeareschen Gewalt fasziniert war und am Ende seines Lebens den Ernst Jünger des Buches In Stahlgewittern aufsuchen wollte, den Schriftsteller, der wahrscheinlich stärker als jeder andere Mensch für Borges den Typus des Soldaten verkörperte, schildert die Kriege in seinem Land in Erzählungen und Gedichten mit der heimlichen Bewunderung und der Sehnsucht des Schriftstellers, der selbst nie einen Kampf miterlebt hat. Auch O‘Donnell kennt sich damit aus. Literatur hat er nicht daraus gemacht, aber es sind mit viel Pathos erzählte Geschichten von Komplotten und Junten, bevölkert von Gestalten, wie geschaffen für Filme und Fernsehserien. Da ist zum Beispiel der junge Mariano Moreno, der durch die Lektüre von Rousseau und Montesquieu aufklärerische Ideen kennengelernt hatte, die zu einer der vielen lateinamerikanischen Revolutionen führen sollten, der jedoch, bevor es soweit war, mit nur vierunddreißig Jahren auf einem englischen Schiff vergiftet wurde. Oder die noch viel pittoreskere Catalina de Erauso, auch Leutnant-Nonne genannt, eine Frau, die mit fünfzehn Jahren aus einem Kloster in Spanien floh,als Mann verkleidet anheuerte und in der neuen Kolonie an Kämpfen teilnahm, in Duellen zahllose Männer tötete, darunter ihren eigenen Bruder, den sie im Dunkeln nicht erkannt hatte. Das Spanische schlägt hier manchmal merkwürdige Kapriolen, als ich das Wort revuelo nachschlage, das in dieser Geschichte vorkommt, kann das in Spanien Vogelschwarm bedeuten oder auch Durcheinander, in diesem Teil der Welt aber auch den Sprung des angreifenden Hahns in einem Hahnenkampf. Und genauso muß es ausgesehen haben, als diese männliche Kampfnonne in La Paz wieder einmal festgenommen wurde und auf den Rat eines Mönches hin, mit dem sie/er in derselben Zelle
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