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Schiffstagebuch

Schiffstagebuch

Titel: Schiffstagebuch
Autoren: Cees Nooteboom
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saß, ihrer Hinrichtung durch die Bitte zu entgehen versuchte, vor ihrem Tod noch ein letztes Mal beichten und zur Kommunion gehen zu dürfen, was man einem Katholiken natürlich nicht verweigern darf. Sie bekam die Hostie, nahm sie aber augenblicklich aus dem Mund und drohte, sie auf den schmutzigen Boden zu werfen, ein Sakrileg. Später sollte sie diese Begebenheit in einem Brief an den Papst schildern: Man hatte ihr die Hände geschrubbt, sie den Mund ausspülen lassen und dann allein in einer Kirche zurückgelassen. Sie wurde verbannt mit dem Befehl, nie wieder zurückzukehren, wurde in Cuzco erneut auffällig, suchte Zuflucht beim dortigen Bischof und gestand ihm, sie sei eigentlich eine Frau, worauf er sie von zwei Frauen untersuchen ließ, die ihre Aussage bestätigten und außerdem feststellten, daß sie noch immer Virgo intacta war, so daß sie wieder den Habit anlegen durfte, Ende gut, alles gut.
    Philipp IV., der im fernen Spanien von alldem gehört hatte, ließ sie nach ihrer Rückkehr zu sich kommen, »lauschte aufmerksam ihrer Geschichte« und schenkte ihrdreißig Dukaten sowie die vierfache Ration eines Fähnrichs, doch sie konnte ihre Natur nicht verleugnen, und so stammten die letzten Berichte über sie aus Mexiko, wo sie als Mauleseltreiber arbeitete und Menschen von Veracruz nach Mexiko-Stadt brachte, noch immer in Männerkleidung, mit Schwert und Degen; nach den unwiderstehlichen Worten eines gewissen Paters namens Diego de Sevilla »era de buen cuerpo, no pocas carnes, color trigueño, con algunos pocos pelillos por bigote«, will sagen, sie war gut gebaut, gut gepolstert, dunkelblond und hatte als Schnurrbart ein paar Härchen.
     
    Wir müssen im Dunkeln den Río de la Plata hinaufgefahren sein, ich wache auf von der Stille. Als erstes sehe ich einen Mann am leeren
     Kai. Der Besen, den er in der Hand hält, hat etwas von einer Lanze, ein einsamer Wächter. Die Sonne ist gerade hinter ihm aufgegangen, die riesigen
     Container hinter und neben dem Mann werfen lange Schatten. Er hat gut gefegt, das macht ihn, als er jetzt so still dasteht, zu einem Standbild in einer
     Stadt, die davon nur so wimmelt. Eine gewalttätige Vergangenheit erzeugt heroische Statuen, und ohne Revolution passierte hier nie etwas. Es wird ein
     merkwürdiger Tag, denn Montevideo ist eine merkwürdige Stadt. Juan Carlos Onetti, einer der Schriftsteller, die ich am meisten bewundere, stammte von
     hier, wenngleich er viele Jahre auf der anderen Seite des großen Flusses, in Buenos Aires, lebte und später, aus politischen Gründen, in Madrid. Kein
     einfacher Autor, auch kein angenehmer Mensch, schroff, querköpfig, mit fast niemandem zu vergleichen, weshalb andere Schriftsteller gut über ihn schreiben
     können, wie Mario Vargas Llosa es unlängst getan hat. Um ein Themakommt niemand herum: Santa María. Das ist die Stadt, in der
     einige seiner Erzählungen und Romane spielen, eine Stadt, die er sich ausgedacht und so beschrieben hat, daß man einen Plan von ihr zeichnen könnte,
     inklusive Hafen und Bordell, der Praxis des rätselhaften Doktors Diaz Grey und der zum Untergang verdammten Werft, in der die Angestellten prächtige Titel
     haben, aber nicht mehr bezahlt werden – die Geschichte gleicht noch am ehesten dem gescheiterten Traum eines Verrückten, mit derselben Spannung wie Nie mehr schlafen von Hermans. Diese Stadt gibt es nicht, ihre klaustrophobische Wirklichkeit existiert nur in Onettis Büchern, sie scheint hin und
     her zu pendeln zwischen Schein und Sein, man will nicht glauben, daß Santa María nicht irgendwo dort am Fluß liegt, den wir gerade aufwärts gefahren sind,
     ein Spinnennetz aus Kriminalität und Vermutungen, in dem der verbrecherische Augusto Goerdel, der von Pater Bergner geschützt wird, irgendwo diese
     nichtexistierenden Straßen entlanggeht, den Tod als Begleiter. Nein, Montevideo ist es nicht, das ist zu groß, es muß eine der Küstenstädte der Umgebung
     sein, die möglicherweise Modell gestanden hat, doch der Geist der Großstadt – Bars mit viel Alkohol und Frauen, eigenartige Werbeagenturen und
     Redaktionsräume (Onetti hatte mit beiden zu tun, in Montevideo wie in Buenos Aires) – ist das natürliche Element in seinen Geschichten und Büchern, und
     das in einem Maße, daß ich jetzt hier herumspaziere und fast physisch sein bitteres Universum um mich spüre. Schwer ist das nicht, die Stadt liefert:
     Abrißviertel, altmodische Cafés mit Zeitungen voller Politik und
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