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Schattentraeumer

Schattentraeumer

Titel: Schattentraeumer
Autoren: Bettina Belitz
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gleich würde sich ein Blitz entladen, der in seiner Zerstörungskraft alle anderen in den Schatten stellte. Und sie – wo war sie? Wo …
    Ich hieb mir die Faust in den Magen, um meinen Hunger zum Schweigen zu bringen, der mich unentwegt von hier wegtrieb und meine Sinne zu vernebeln begann.
    »Wo bist du, Ellie? Wo bist du. Sag es mir. Bitte«, flüsterte ich, so sanft es mir möglich war. »Gib mir ein Zeichen.«
    Nun stieg ihr Bild vor meinem geistigen Auge auf – endlich, ich sah sie, als habe sie in ihrem Kopf ein Fenster geöffnet und mich zu sich gelassen, damit ich sie retten konnte. Als wäre ich ein alt vertrauter Freund. Sie brauchte tatsächlich Hilfe. Es war richtig, dass ich ihr entgegenritt. Sie war auf eine der Brückenruinen geklettert, um sich vor dem steigenden Wasser zu retten, und weil das Gestein rutschig und brüchig war vom Regen, hielt sie sich an einem umgebogenen, eisernen Schienenstück fest. Ihr ganzer Arm flimmerte bereits blau, ebenso wie Louis’ Fell und das Wasser des Baches. Elmsfeuer, überall – die Vorboten der Vernichtung. Der Blitz, dessen Sirren bereits jetzt drohend die Luft zerriss, würde sie töten, das spürte ich.
    »Lass los«, wisperte ich und dachte diese Worte so intensiv, bis ich sie in meinem Kopf aufleuchten sah und in meinem ganzen Körper fühlte. Sie mussten sie erreichen. Louis blieb stehen, starr vor Angst angesichts dessen, was geschehen würde, doch er half mir damit, mich zu sammeln. »Lass los!«
    Sie ließ los und nur Sekundenbruchteile später ertönte ein so brachialer Donnerschlag, dass Louis vor Schreck stieg und ich die Zügel anziehen musste, um ihn an der Flucht zu hindern. Unsere Aufgabe war noch nicht erledigt. Sie war nicht gerettet, sondern hielt sich mit letzter Kraft am Felsen fest, ein paar Meter unterhalb des Schienenstücks. Wenn sie der Blitzeinschlag verletzt hatte und sie in den Bach hinabstürzte, würde sie womöglich ertrinken, weil sie in diesem Zustand nicht fähig war zu schwimmen … Vielleicht war sie gelähmt oder einer Ohnmacht nahe, eine Vorstellung, die meinen Hunger erneut anfachte. Noch einmal hieb ich mir die Faust in den Magen, um ihm zu zeigen, wer der Herr in diesem Hause war.
    Colin, du Idiot, schalt ich mich in Gedanken, weil ich wieder mal vergessen hatte, wie Menschen beschaffen waren. Ihr Körper und Geist waren viel verletzlicher als meiner. Derart geschwächt würde sie sich niemals an dem glitschigen Gestein festhalten können – und nun wandte sie sogar den Kopf zu mir. Sie war bei Bewusstsein. Und sie sah mich.
    So blickte auch ich direkt in ihre Augen, die mich tief und wild umfingen wie das aufgewühlte Meer. Blaugrün. Mit braunen Sprenkeln in der Iris. Oh, es waren nicht die Augen einer Siebzehnjährigen. In ihnen schlummerten die erlebten Gefühle ganzer Generationen. Und wenn sie wütend wurde, konnte sie mit ihnen Blitze senden, die selbst mich nicht unberührt zurücklassen würden.
    Aber sie zeigte eine ganz normale Reaktion, wie fast alle Menschen, wenn sie mich erblickten. Ablehnung, Abscheu, beinahe Hass. »Nein«, formte ihr Mund, während Louis schnaubend auf sie zugaloppierte und seine schweren Hufe die dünne Eisschicht durchbrachen, die sich am Rande des Baches infolge des Temperatursturzes gebildet hatte. Ihre zerzausten Locken klebten nass an ihrem bleichen Gesicht, bläulich schimmerten die Adern durch die zarte Haut an ihren Schläfen. Sie hatte einen Schuh verloren, ihr rechter Fuß war bloß und für ein paar Sekunden saugten sich meine Augen daran fest, fixierten die Vene an ihrem Knöchel und das dünne Blut, das aus einer Schramme über ihre Haut sickerte. Ihr ganzer Körper strömte Angst aus, so stark, dass ich aufhörte zu atmen, doch ihr Blut war erfüllt von unbändigem Überlebenswillen. Genau deshalb würde sie es zulassen, dass ich sie zu mir nahm. Sie wollte leben.
    »Nein«, flehte sie noch einmal, nun mit geschlossenen Augen, weil sie mich nicht mehr sehen wollte oder konnte, doch ich war schon bei ihr, pflückte sie mit einer einzigen, starken Bewegung vom Felsen und schob sie vor mich auf Louis’ Rücken. Sie leistete keinerlei Widerstand, ließ es still mit sich geschehen, doch an dem Brennen in meiner Brust erkannte ich, dass sie ihre Augen wieder geöffnet hatte.
    Louis zuckte zusammen, als er die erhitzte Haut ihrer Schenkel spürte, bäumte sich wiehernd auf den Hinterläufen auf und drehte sich einmal um sich selbst. Aber die Kraft meiner Gedanken genügte,
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