Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattentraeumer

Schattentraeumer

Titel: Schattentraeumer
Autoren: Bettina Belitz
Vom Netzwerk:
sicheren Mauern und schützenden Dächern, als existiere ein Teil in mir, der hoffte, von den wild tobenden Elementen vernichtet zu werden. Aber dieses Mal war es mehr als nur Todessehnsucht, was mich nach draußen trieb. Ich wollte, dass Louis’ Wärme im Galopp auf mich überging, meine Haut menschenähnlich machte, dass der Wind mir Tränen in die Augen steigen ließ, dass ich … ja, was denn nun?
    Ich stutzte. Konnte das sein? Ich wusste nicht genau, was mich antrieb. Trug ich ein Geheimnis in mir? Noch einmal horchte ich in mich hinein, doch es blieb etwas in mir, das ich nicht deuten konnte, ein sanfter, aber unerbittlicher Drang. Eine neue Variante von Hunger? Nein, Hunger fühlte sich grausamer und quälender an. Ich hatte Hunger, doch das war Dauerzustand, nichts Besonderes mehr, selbst der Hunger nach dem Mädchen war beschämend klar zu identifizieren gewesen.
    Trotzdem – hatte dieses ungewohnte, zarte Drängen etwas mit ihr zu tun?
    Ich machte einen vorsichtigen Schritt nach vorne und schmiegte meine Stirn an Louis’ Stirn, damit unsere Instinkte miteinander verschmelzen konnten. Er war nervös, aufgepeitscht, etwas da draußen ging auf ihn über und schoss in seine Nerven, und nun nahm auch ich es wahr, obwohl es Gefühle waren, die Geschöpfe wie ich normalerweise mieden wie die Pest.
    Schon heute Mittag hätte ich eigentlich davor flüchten müssen, ach, schon bei unserer ersten Begegnung. Doch ich irrte mich nicht. Das Drängen in mir hatte mit ihr zu tun. Grundgütiger, dieses Mädchen war da draußen, im Wald, nicht weit weg von hier … und sie fürchtete sich. Was in aller Welt tat sie da? Sie sollte wie andere Jugendliche ihres Alters vor dem Fernseher oder dem Computer sitzen oder ihre Nase in ein schlaues Buch stecken, sie sollte von mir aus schlafen, aber im Wald hatte sie nichts verloren. Sie war ein Stadtpflänzchen, das hatte ich nicht nur anhand ihres Verhaltens und ihrer Kleidung erkennen können. Auch das Nummernschild des Autos, von dem sie abgeholt wurde, hatte es mir verraten. Sie kam aus Köln, war gerade erst hierhergezogen, unfreiwillig. Und sie dachte wahrscheinlich, die Gewitter hier waren wie die Gewitter in der Großstadt – ein paar Blitze, Donnergrollen, ein kurzer Regenguss. Doch über uns braute sich gerade die Vorhölle zusammen.
    Noch einmal versuchte ich, mich mit Louis zusammenzuschließen und mich auf sie zu fokussieren, ohne Rücksicht auf das, was mir dabei entgegenbrandete. Wut. Frustration. Verletztheit. Unsicherheit. Zweifel … so viele Zweifel, die sich im Sekundentakt vermehrten. An Zweifeln konnte jemand wie ich zugrunde gehen und doch gab es für mich nichts zu überlegen. Sie war in Gefahr, weil sie dachte, sie könne mal eben so durch den Wald spazieren, vermutlich angezogen wie zum Shoppingausflug in der Fußgängerzone. Sie brauchte jemanden, der ihr da heraushalf. Und ausgerechnet ich wollte derjenige sein, der diese Rolle übernahm. Es passte nicht zu dem, was ich war, es sei denn, es war nur eine Masche, ein Trick meines Hungers, um an sie heranzukommen. Doch dieses Risiko musste ich eingehen, denn sie war ganz alleine.
    »Ellie …« Mit einem Mal lag ihr Name auf meiner Zunge, ohne dass ich ihn je gehört oder gelesen hatte. Jetzt, wo ich sie schützen wollte, kannte ich ihn, sah ihn sogar geschrieben vor mir. Doch wenn ich ihn ausgesprochen hätte, hätte er wie Ally geklungen. Mein Akzent brach durch, sobald ich an sie dachte. Meine Silben wurden weich …
    Ich musste zu ihr. Wenn mein innerer Kompass mich nicht täuschte, lief sie an einem jener Bäche entlang, die bei Gewitter über die Ufer traten, draußen, bei den Brückenruinen des ehemaligen Eisenbahnnetzes, das seit Jahrzehnten unter der grünen Last des Waldes verrottete. Eine gefährlichere Stelle für ihren unschuldigen und so gottverdammt naiven Nachmittagsspaziergang hätte sie sich kaum aussuchen können. Ich hatte keine Zeit zu verlieren.
    Auf den Sattel verzichtete ich und schnallte Louis nur die Trense um, bevor ich meine Haare, so gut es ging, unter meine Baseballkappe stopfte und diese tief ins Gesicht zog. Denn mein Gesicht sollte sie nicht sehen können. Nicht meine Augen, nicht meine Nase und auch nicht meinen Mund. Ich sollte ein Schatten für sie bleiben.
    In dem Moment, in dem ich mich auf Louis’ Rücken schwang, erhob sich die erste Windböe, noch warm und beinahe sanft, aber was danach kam, würde eisig werden und wahrscheinlich sogar Hagel bringen. Schon auf
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher