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Schattentraeumer

Schattentraeumer

Titel: Schattentraeumer
Autoren: Bettina Belitz
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weil eine der Zuchtstuten sich zu den Hengsten verirrt hatte. Eine Kreuzung aus Friese und Trakehner – was sollte dabei herauskommen? Ein Prachttier – das ahnte ich schon damals – und nahm ihn zu mir, bevor der Gutsbesitzer sich entschließen konnte, ihn zum Schlachter zu geben. Nach einigen Jahren begann er, vor warmer Menschenhaut zu erschrecken und meine unterkühlte zu suchen, weil er mich gewöhnt war. Nur mich. Er wäre für mich durchs Feuer gegangen.
    Die langen Haare an seinen Nüstern kitzelten meine Wange und erinnerten mich an die erste Berührung mit einem Pferdekopf, damals in den Highlands. Oh Gott, es war solch ein Fluch, sich an alles zu erinnern, von der ersten Minute an. Was für eine Gnade bedeutete doch das Vergessen, das den Menschen geschenkt worden war. Wenn jeder sich in aller Gänze an seine ersten Jahre auf Erden erinnern würde, könnte niemand glücklich sein. Selbst jetzt, an diesem warmen, drückenden Frühsommernachmittag, spürte ich die Kälte an meinem Leib, als ich in Gedanken nach oben blickte und das verzerrte Gesicht meiner leiblichen Mutter sah, die mich in einem alten Weidekorb durch die Winternacht trug, um mich wieder einmal auf einem Hügel abzusetzen und zu hoffen, dass die Feen mich holten, dieses bösartige Wechselbalg, für das sie mich hielt. Oder dass ich eben endlich erfror … Denn ob Wechselbalg oder nicht: Sie wollte mich nicht bei sich haben. Aber obwohl ich die Kälte in meinem winzigen Körper wie eine Feindesmacht fühlte und zu gut wusste, dass meine eigene Mutter mich fürchtete und ablehnte, gab es eine Flamme in mir, die stärker war und mich am Leben hielt. Jedes andere Baby wäre schon in der ersten Nacht gestorben. Doch meine Mutter fand mich morgens mit wachen, klaren Perlenaugen, meinen Blick unverwandt auf sie gerichtet, fragend und wissend zugleich.
    Die Pferde waren es, die mich schließlich retteten – und eine Standpauke des Dorfpfarrers, der meine Mutter zurechtwies, sie solle mich als ein Geschenk Gottes annehmen und ihre Pflicht erfüllen. Sie ließ mich leben, aber Milch, Wärme und Fürsorge gaben mir die Pferde. Sie berührten mich, neugierig und scheu zugleich. Aber sie taten es. Und sie taten es mit weitaus mehr Hingabe als meine Schwester, die sich immerhin überwand, mich zu ihnen zu bringen und die Ponystute zu melken, um mich zu ernähren. Noch heute war ich ihr dankbar dafür.
    Ich duckte mich, um unter dem oberen Balken des Zauns hindurchzuschlüpfen, wobei sich mein Körper merkwürdig schwerelos und energiegeladen zugleich anfühlte, was mir wieder einmal bewies, welch rohe Kraft in mir schlummerte. So wartete ich ein paar Sekunden, in denen das Rauschen in mir sich etwas beruhigte, bis ich mich sacht gegen Louis’ muskulöse Schulter lehnte.
    Der Geruch seines Fells verriet mir, dass der Luftdruck sich erneut veränderte. Die feinen Haare seines Unterfells reagierten auf jede winzige Wetterkapriole. Es war erst Mai, aber dieses Gewitter würde die Qualität eines handfesten Sommerunwetters haben. Bildete ich mir das nur ein oder wurde das Wetter in den vergangenen Jahren immer extremer? Hatte der Wald sich verändert? Manchmal hatte ich den Eindruck, das gesamte Ökosystem des Waldes hatte zu kippen begonnen, seitdem ich hier lebte und wirkte. Zumindest war auf der anderen Seite des Waldes ein Wolf heimisch geworden. Außer mir schien ihn noch niemand gesichtet zu haben und ich hatte meine Entdeckung wohlweislich verschwiegen. Nicht einmal dem Förster hatte ich davon erzählt. Die Menschen fürchteten Bestien und taten alles, um sie zu vernichten oder zu vertreiben – wenn das jemand wusste, dann ich. Der Wolf suchte beinahe jede Nacht meine Nähe, genauso wie die Hirsche und Eulen. Fast war mir, als wollten sie sich mir freiwillig als Nahrungsquelle anbieten. Dabei war es eigentlich meine Aufgabe, sie zu schützen, und nicht, mich an ihnen zu vergreifen. Ein weiterer der vielen Widersprüche, die mein Leben seit jeher begleiteten.
    Prüfend blickte ich in den Himmel, obwohl selbst das matte schwefelgelbe Licht, das einem Unwetter vorausging, in meinen Augen brannte und sie türkisgrün werden ließ. Ja, da braute sich etwas zusammen. Blitzeinschläge im Sekundentakt. Orkanböen. Sintflutartiger Regen, der die Bäche binnen Minuten in Sturzfluten verwandeln würde – all das würde sich noch vor Sonnenuntergang hier abspielen. Wie immer, wenn die Naturgewalten zu wüten begannen, zog es mich nach draußen, weg von
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