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Schattentraeumer

Schattentraeumer

Titel: Schattentraeumer
Autoren: Bettina Belitz
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dem Kies der Einfahrt trieb ich Louis in seinen typisch schwebenden, schwungvollen Galopp. Zitternd und im gleichmäßigen Rhythmus seiner Hufe verschmolzen seine Lebensenergien mit dem Pulsieren in meiner Brust – etwas, wofür wir anfangs Stunden brauchten und was sich jetzt innerhalb weniger Augenblicke vollendete.
    Doch ich durfte dabei niemals vergessen, was ich war – es blieb eine Gratwanderung, Louis’ Natur in mich fließen zu lassen und nicht meine in ihn. Manchmal passierte es dennoch, dann wurde aus dem sonst so treuen, gutmütigen Hengst ein Ungeheuer von einem Pferd, das sich zwar an der Macht auf seinem Rücken erfreute, weil sie ihm seine naturgegebene Angst nahm, aber zugleich unberechenbar wurde. Mit äußerster Konzentration und Beherrschung konnte ich ihn dann noch kontrollieren, durfte die Zügel aber keinesfalls aus der Hand geben, denn für alle anderen konnte er zu einer Gefahr werden.
    Ob die Gratwanderung heute glücken würde, wusste ich nicht. Schlechter hätten die Voraussetzungen kaum sein können.
    Louis wurde mit jeder Biegung, die wir nahmen, schneller, aber auch widerspenstiger. Die Muskeln seines Rückens arbeiteten steinhart unter mir, weißer Schaum troff aus seinem Maul und sein Hals war bereits schweißbedeckt, sodass sein dunkles Fell im zuckenden Gewitterlicht in allen Schattierungen schimmerte. Doch zwischen uns gab es keine Grenzen mehr, wir waren eins geworden. Niemals würde er jetzt versuchen, mich abzuwerfen – und alleine deshalb hätte ich, ohne zu zögern, mein Leben für ihn gegeben. Ohne ihn konnte ich nicht sein. Er war meine Menschlichkeit.
    Nun konnte ich sie riechen. Ein schwacher Hauch eines etwas zu schweren Parfums, nicht genug, um den salzig-matten, milden Duft ihrer Haut zu überdecken. Tief atmete ich ein und wieder aus, um sie zu orten, und kurz brüllte der Hunger in meinem Bauch auf, irritiert und unwillig angesichts dessen, was ich da vorhatte. Die Nahrungsquelle war zwar korrekt, aber ihr Zustand eine Katastrophe.
    Ich ignorierte ihn und trieb Louis weiter, während das Unwetter ohne jede Vorwarnung losbrach und seine ganze Zerstörungskraft entfachte. Die Blitze schlugen so rasch hintereinander ein, dass das Grollen des Donners gar nicht mehr endete, und in einem tierischen Kreischen brachen Äste über uns entzwei, weil der Wind in wütenden Böen an den Wurzeln der Bäume rüttelte, als habe er den Wald zu seinem Feind erklärt. Und Ellie war mittendrin in diesem Inferno, schutzlos und alleine. Trotz des Tosens um mich herum gelang es mir, mich auf ihre Gedanken zu konzentrieren, die völlig konturenlos und vor allem viel zu zahlreich geworden waren, um sie ordnen zu können. Aber sie dachte noch, plante noch, ihr Gehirn arbeitete, obwohl sie sich mitten im Zentrum des Unwetters befand.
    Weit entfernt konnte sie nicht mehr sein, vielleicht vierhundert oder fünfhundert Meter. Aber warum nahm ich sie jetzt nicht mehr am Boden wahr – warum entschwebte ihre Essenz, dieses fatale Gemisch aus Panik, Entsetzen und rasenden Gedanken, nach oben? War sie etwa schon von einem der Blitze getroffen worden? Starb sie?
    »Nein!«, brüllte ich in die Finsternis, die uns jetzt umgab, ohne meine Stimme hören zu können. Louis wieherte schrill auf und drehte sich einmal um sich selbst. »Du stirbst nicht! Du stirbst nicht, Ellie! Niemals!«
    Lieber hätte ich sie gepackt und ihr die Unendlichkeit eingeflößt, als dass ich zuließ, sie in diesen Gewalten hier untergehen zu lassen. Ich war stärker als das. Ja, ich war mächtiger als der Tod, er kannte mich nicht, ignorierte mich seit 168   Jahren, und das würde ich auf sie übertragen, indem ich sie mir holte, wegbrachte und dann in ihre Seele drang, bis ihre Angst und Furcht schwanden. Deine Träume zu meinen. Für immer.
    Es war Louis, der für einen kurzen hellen Moment den Verstand zurück in meinen Körper holte. Trotz seiner elenden Scheu vor Wasser entriss er mir die Zügel und sprang freiwillig die Böschung hinunter, mitten in den Bach, der sich wie befürchtet in einen reißenden Strom verwandelt hatte. Sein plötzlicher Ungehorsam überraschte mich so sehr, dass das Brüllen in mir stockte. Zu überrumpelt, um Louis wieder zur Räson zu bringen, ließ ich zu, dass er schnaubend vorwärtspreschte und das Wasser bei jedem Galoppsprung in Fontänen aufstieg.
    Verflucht, was sollte ich nur tun? Die Elektrizität um uns herum ließ Louisʼ Mähne knistern und selbst meine Haut schmerzte und flirrte,
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