Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
Die Naht seines Pullis war über der Schulter leicht aufgeribbelt und wenn ich mich zu ihm rüberlehnte und vortäuschte, mir das Zahlenchaos anzusehen, erahnte ich seinen Geruch. Seife und Rasierwasser, gemischt mit einem feinen Duft, für den ich keinen Namen kannte. Aber dieser kaum wahrnehmbare Duft sorgte dafür, dass mir ganz schwindlig wurde. Ein lautes Kinderlachen aus der Küche, in das Rufus sogleich mit einstimmte, holte mich schließlich wieder in die Gegenwart zurück.
Sam zuckte ebenfalls leicht zusammen, als wäre er mit seinen Gedanken ganz woanders gewesen. Er blinzelte, dann ließ er den Ordner zuschnappen und legte ihn auf den Tisch. »Ich glaube, ich weiß, wo dein Problem liegt.«
Ertappt rutschte ich ein Stück von ihm ab. Er hatte also begriffen, dass mich Mathematik nicht im Geringsten interessierte, wenn ich mich in seiner Nähe befand.
»Bjarne ist die Sache einfach falsch angegangen. So komplett abstrakt. Du kannst doch phantastisch malen, richtig? Also bist du ein visueller Typ.«
»Woher weißt du, dass ich gern male?«
Sam zuckte lässig mit der Schulter, aber er mied meinen Blick. »Das weiß doch jeder bei uns an der Schule. Außerdem hängen ja ein paar von deinen Skizzen in eurer Diele.«
Stimmt. Weiter als bis zur Diele war Sam bei uns zu Hause auch noch nicht gekommen, weil Rufus ihn immer sofort abfing. Unterhaltungswillige Mütter und Schwestern störten seiner Meinung nach bei Jungenfreundschaften nur. Aber meine Skizzen von der Küste, die mein Vater stolz eingerahmt und aufgehängt hatte, waren Sam trotzdem aufgefallen. Die Freude über dieses indirekte Kompliment stieg mir kribbelnd die Kehle hoch und ich musste mich zusammenreißen, um kein glückliches Lachen auszustoßen.
»Okay«, fuhr Sam fort, ein mitreißendes Glitzern in den Augen. »Wir machen diese ganze Geometrie-Kiste einfach gegenständlich, dann klappt das bestimmt. Das ist bloß ein Gerücht, dass Mathe immer so abstrakt sein muss. Also, stell dir vor, meine Hand …«
Ich schaute auf seine Hand und stellte fest, dass seine Fingerknöchel recht markant hervortraten. Kräftige Hände hatte er, trotzdem elegant geschnitten. Die Monde seiner Nägel waren ausgeprägt, das mochte ich besonders gern.
Dann riss ich mich zusammen und konzentrierte mich auf Sams Erklärungen, soweit es mir in seiner Nähe möglich war. Irgendwann wurden wir unterbrochen, weil Rufus mit den bettfertigen Kindern hereinkam, damit sie Gute Nacht sagen konnten. Wenn meinem Bruder die Aufdeckung seiner fürsorglichen Seite unangenehm war, so ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Alles war derart selbstverständlich, dass ich kurz überlegte, ob ich ihn bislang vielleicht ganz falsch eingeschätzt hatte. Aber dann sah ich, wie Rufus Sam angrinste. »Mann, wenn meine Eltern dir für Milas Nachhilfe etwas zahlen, steht mir davon mindestens die Hälfte zu. Windeln wechseln ist echt das Letzte.« Dabei klang er so stolz, als würde er sich gleich auf die Brust trommeln.
Da begriff ich, warum Rufus, ohne mit der Wimper zu zucken, Kleinkinder versorgte oder seine Wochenenden freiwillig im Kabuff der Tankstelle verbrachte: Sam war einerseits sein bester Freund, den er bewunderte, aber andererseits genoss er es auch, in dieses fremde Leben einzutauchen. So konnte er für eine Zeit lang ein anderer sein, jemand, dem nicht alles in den Schoß fiel und der es trotzdem packte. In Sams Haut konnte mein vom Leben verwöhnter Bruder erleben, was es bedeutete, keine Eltern zu haben, die ihm zum Geburtstag einen Gebrauchtwagen vor die Tür stellten und seine Rücksichtslosigkeit für eine Phase hielten. Sam hingegen musste für alles hart arbeiten: Dafür, dass er bei der Familie seiner Schwester leben durfte, dass er nach dem Schulabschluss ein Stipendium erhielt, und dass seine Umwelt ihn nicht zum asozialen Objekt abstempelte, weil sein Vater ein in ganz St. Martin verschriener Schläger war. Nur Freundschaft und Loyalität musste sich Sam offensichtlich nicht erarbeiten, die schenkten ihm seine Freunde auch so.
Während Rufus sich in den Sessel fallen ließ, um in einem Musikmagazin zu lesen, fuhr Sam fort, mir die Geheimnisse der Trigonometrie anhand von Linealen, Radiergummis und viel Handgefuchtel zu erklären. Und als es draußen bereits dämmerte, stellte ich fest, dass es fruchtete. Sams Handbewegungen und dazu die gelassen ausgesprochenen Erklärungen fügten sich zu einem Regelwerk zusammen. Noch schwebte alles etwas unsortiert
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