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Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen

Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen

Titel: Schattenschwingen Bd. 1 Schattenschwingen
Autoren: Tanja Heitmann
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verwandelt hatte. Waldreben und üppige Kletterrosen schlangen sich um Baumstämme und den Zaun, Lavendel bauschte sich silberblau neben Türmen von Lupinen, und jeder Flecken Erde war mit Vergissmeinnicht zugewuchert. Mitten in diesem Urwald blitzte gelegentlich der karottenfarbene Pixischopf meiner Mutter Reza auf.
    Wie immer dankte ich dem Schicksal dafür, dass ich ihre Haarfarbe nicht geerbt hatte, sondern das Schokoladenbraun meines Vaters. Zu meiner Hippiemutter passte es, keine Frage. Aber man braucht schon ein unerschütterliches Ego, wenn man über die vielen Witze, die die Leute über rote Haare auf Lager haben, mitlachen und trotzdem aufrecht durchs Leben gehen will. Vielleicht war ich ja irgendwann einmal auch so lässig drauf, aber im Augenblick fand ich es einfach besser, nicht wie ein Feuermelder aus der Masse zu ragen.
    Rufus gehörte nicht zu den Leuten, die höflich an die Tür klopften. Er kam einfach rein - holterdipolter -, wie es so seine Art war.
    »Na, Schwesterherz, was malst du denn da?«
    Zwei Dinge ließen mich aufhorchen: Erstens nannte mein Bruder mich nie »Schwesterherz« - außer er wollte etwas von mir. Und zweitens lag sein Interesse an meinen Malversuchen normalerweise so ziemlich bei null. Er wollte also unbedingt etwas von mir. Demonstrativ blickte ich zum Fenster hinaus und unterdrückte ein Grinsen. Ich würde ihn erst einmal eine Runde an der Angel zappeln lassen, denn mangelnde Beachtung war etwas, das Rufus ganz schlecht vertrug. Da ich allerdings nur selten die Gelegenheit bekam, meinen großen Bruder auflaufen zu lassen, würde ich das hier auf jeden Fall auskosten.
    Rufus ließ sich mit seinem ganzen Gewicht auf mein Bett plumpsen und fing an, die Widerstandskraft der Matratze zu testen, indem er darauf auf und ab hüpfte. Unbeirrt ließ ich den Kohlestift weiter über das Papier schaben, nur damit er ein Geräusch machte, als würde ich trotz Rufus’ Sabotageversuchs tapfer weiterzeichnen. Dabei hatte ich den Gedanken an die Skizze von unserer Gartenlaube längst aufgegeben. Ehrlich gesagt, hielt ich es vor Neugierde kaum noch aus. Was konnte Rufus bloß von mir wollen?
    »Okay«, gab er schließlich auf. »Ich schlage dir einen Handel vor: Entweder legst du jetzt den Block beiseite, oder ich mache mich auf die Suche nach deinem Tagebuch und werde darin lesen, bis du mit deinem Gekrakel fertig bist.«
    »Ich habe gar kein Tagebuch!« Das war eine Lüge und Rufus sah es mir auch sofort an. Zumindest zog er überheblich die Brauen in die Höhe. Ich war einfach eine schlechte Lügnerin. »Schon gut. Also, was willst du von mir?«
    Einen Moment lang sonnte sich Rufus im Glanz seines Sieges, dann kniff er mich vor lauter Genugtuung, mich kleingekriegt zu haben, in den großen Zeh. Ohne zu zögern, holte ich mit dem Block aus und traf volle Breitseite seinen Oberarm. Nach einem halben Leben voller Kitzelattacken, Raufereien und gelegentlichem Armdrücken hatte mein großer Bruder immer noch nicht begriffen, dass ich im Vergleich zu ihm zwar nur eine halbe Portion, aber trotzdem alles andere als eine leichte Beute war. Ich war schlicht schneller und viel zielgerichteter als er. Trotzdem sah er mich jedes Mal völlig erstaunt an, wenn ich mich erfolgreich gegen ihn zur Wehr setzte. Als sei er der festen Überzeugung, dass kleine Schwestern aus Prinzip unterlegen sein müssten.
    Mit erhobenem Haupt legte ich den Block beiseite und sagte: »Los, raus mit der Sprache. Was willst du von mir?«
    Rufus rieb sich immer noch den Arm, obwohl der Schlag keinesfalls wehgetan haben konnte. Es ging wohl eher um seinen verletzten Stolz. Die Sache musste ihm wirklich wichtig sein, denn er schluckte ihn herunter. »Tu mir den Gefallen und ruf bei Julia an. Quatsch ein bisschen mit ihr, und dann erwähnst du ganz nebenbei, dass ich heute nicht zum Muay-Thai-Training gehe, weil ich Dad beim Umräumen seines Büros helfen muss oder so. Denk dir irgendeine passable Ausrede aus, ja?«
    Julia, aus dem Jahrgang über mir, war Rufus’ größter Fan und folgte ihm überallhin. In der Regel ignorierte er sie, aber ich hatte den Verdacht, dass sie ihn keineswegs störte, sondern eher seinem Ego schmeichelte. Als wenn das so klein gewesen wäre! Jedenfalls folgte Julia seiner Spur sogar bis zum Muay Thai, lungerte während des Trainings in der Halle rum und wenn Rufus anschließend auf den Bus wartete, klebte sie wie ein Schatten an seiner Seite. Ich wunderte mich schon seit Längerem, dass er nichts
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