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Schatteninsel

Schatteninsel

Titel: Schatteninsel
Autoren: Marko Hautala
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betrübt.
    »Ihr dauert mich«, sagte er erneut. »Ihr setzt Euch aus freien Stücken Qual und Leid aus. Diejenigen, gegen die Ihr gesündigt habt, finden vielleicht im Jenseits Gnade. Ihr aber findet genau das, was Ihr sucht.«
    Er schlug das Buch zu. Seine strähnigen Haare bewegten sich im Luftzug, die geschwollenen Augenlider zitterten.
    Langsam kehrte er an seinen Tisch zurück und ließ sich auf den Stuhl fallen. Er faltete die Hände über dem Bauch und runzelte die Stirn, als schickte er sich an, das Urteil zu verlesen.
    »Der Grund, weshalb ich wegen Euch Ratte bei Herbststurm eine Seereise zu unternehmen bereit bin, ist der folgende: Im Norden ist außer Hungersnot auch das heilige Feuer aufgetreten. In mehreren Dörfern gab es Wellen von Krampfanfällen und Irrsinn, von denen weder Jung noch Alt verschont blieben. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Plage der Natur, doch ich hege den Verdacht, dass Ihr diese in den Dienst Eurer Schlechtigkeit gestellt habt. In Eurem Dorf war die Krankheit bisher nicht vorgekommen, aber nun stimmen die Symptome überein. Ergotismus gangrenosus . Ergotismus convulsivus . Tobsucht. Starke Halluzinationen. Was sagt Ihr dazu?«
    Jakob schwieg.
    »Ich will die Kraft der Gebete der Antoniter im Kampf gegen diese Plage nicht bestreiten, doch mich interessiert vor allem die Materie, welche die Plage auslöst, denn wenn man diese entfernt, verschwindet auch die Krankheit. In Frankreich hegt man den Verdacht, dass sich der Auslöser in verschmutztem Getreide befindet. Andernorts verdächtigt man Unreinheiten im Wasser. Ich schwöre, dass ich dieses Wissen, sofern Ihr es besitzt, aus Euch herausholen werde, bevor ich Euch dem Gericht übergebe.«
    Jakob erklärte, er verfüge nicht über derartige Kenntnisse, und selbst wenn er sie besäße, würde er sie nicht ausplaudern; es sei also das Beste, ihn schnellstens zu verurteilen und zu bestrafen. Er dachte an seinen Stoffbeutel und daran, wie der Herr mit dem Stolz der Begriffsstutzigen spielte. Wie nah war das, wovon die Rede war.
    »Das werden wir schon sehen, wenn wir erst einmal durch diesen Sturm hindurch sind. Im Hafen machen wir uns daran, Eure schwarze Magierseele zu brechen. Und sie wird brechen. Das habe ich der Krone bei meiner Ehre versprochen.«
    Das Lächeln verweilte kurz auf dem Gesicht des Apothekers, erstarrte dann aber, und seine Schultern zuckten. Er legte die Hand vor den Mund und winkte mit der anderen, man solle den Gefangenen abführen.
    Als sich die Tür schloss, hörte Jakob, wie sich der Apotheker röchelnd erbrach, und überlegte, welche Vernunftketten er wohl in seinem sauren Magensaft sehen mochte. Wieder begann er zu lachen, lachte auf dem ganzen Weg zu seinem Verschlag.
    Dort, in der Finsternis, beruhigte er sich, holte den Stoffbeutel hervor, setzte die Vermessung der Zeit fort.
    Eins, zwei, drei.
    Als Jakob Mört spürte, dass seine Seele vollkommene Ruhe gefunden hatte, hörte er auf, die Körner zu zählen. Er behielt sie in der fest geschlossenen Faust.
    Zwischen Nachthimmel und Korn, im Herzen des Menschen, flackerte die bläuliche Flamme der Gnade. Wenn man sie verlöschen ließ, wurde es auch im Herzen dunkel, in der einen Kammer, in der noch eine Erinnerung an Gott lebte. Dann war alles eins, vom Nachthimmel bis zum kleinsten Korn. Finsternis und Verworrenheit.
    Jakob erinnerte sich genau, wie das Dorf zu schreien begonnen hatte. Er hatte das Fenster im oberen Stockwerk geöffnet, die Umrisse der dunklen Häuser betrachtet und gelauscht, geduldig der Kälte trotzend. Zuerst nur ein Schrei, der vorsichtige Aufschrei einer Frau, der plötzlichbegann und noch plötzlicher abbrach. Es hätte der kraftlose Ruf einer Schlafenden sein können, die von einem Albtraum heimgesucht wurde. Doch dann begann sie, die Hymne des Jüngsten Gerichts. Jakob hatte sich gefühlt wie der Leiter eines Kirchenchors, und das dunkle Dorf war sein Chor der Verdammten. Seine Stimmen erklangen hier und da. Dort das Weinen eines Kindes, da das verwirrte Gebrüll eines Mannes, hier das Aufheulen einer Frau, die merkte, dass es aus diesem Albtraum kein Erwachen gab.
    Jemand schaffte es, eine Kerze anzuzünden. Schwaches Licht vergoldete einen Moment lang das Fenster eines der dunklen Häuser, um dann wild kreisend zu verschwinden. Irgendwer lief über die Straße. Seine Gestalt war nicht zu sehen, doch das Platschen der Stiefel im Schlamm und die Worte des zu spät gefundenen Gebets drangen deutlich an Jakobs Ohren.
    Als
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