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Schatteninsel

Schatteninsel

Titel: Schatteninsel
Autoren: Marko Hautala
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und schien in jedem Moment erlöschen zu wollen. Die Seeleute dampften in ihrer nassen Kleidung, sie warfen Reisig und geteerten Stoff in die Flammen. Die Zweige und Holzstücke zischten und färbten sich schwarz, nur wenige fingen Feuer.
    »Hexer«, rief jemand und lief, einen spitzzackigen Stein in der erhobenen Hand, auf Jakob zu. Die Blicke wendeten sich vom Feuer ab, weit aufgerissene Augen, verzerrte Gesichter. Wie Wölfe waren die Menschen, wenn man ihnen den Boden unter den Füßen wegzog.
    »Lasst ihn«, rief eine Stimme, »im Namen des Königs.«
    Der Apotheker trat aus dem Dunkel ins Licht des Lagerfeuers. Die Haare klebten ihm am Kopf, und die Halskrause hing schlaff herab wie der Kehllappen eines Truthahns.
    »Ein Mensch verursacht keinen Sturm, ob Hexer oder nicht.«
    Er bückte sich und schleifte Jakob näher an das wärmende Lagerfeuer.
    »Entfliehen kann er nicht«, sagte er. »Wir sind alle Gefangene.«
    Die Wärme ließ Jakob noch heftiger zittern, als ob die Kälte vor dem Feuer flöhe und sich in die Knochen und die Magengrube zurückzöge. Jakob zitterte und lächelte.Er erinnerte sich an die Worte in Israel Ulstadius’ Buch: Der Finger eines Schlafenden zuckt nur deshalb, weil der Herr es so bestimmt hat . Auch die prallen Finger des Apothekers wurden vom geheimen Plan des Allmächtigen gelenkt.

II
DIE LIBELLEN

W ährend der Überfahrt auf der Fähre sah Jenni ein kleines Mädchen, das seine Puppe ins Meer warf. Die Puppe schaukelte eine Weile auf den Wellen und ging dann langsam unter.
    Jenni blickte über die Schulter und suchte nach den Eltern des Mädchens, fand aber unter den Erwachsenen, die sich an die Reling lehnten, keine geeigneten Kandidaten. Sie hatte das Gefühl, etwas tun zu müssen, doch das Mädchen selbst war vollkommen ruhig, starrte andächtig auf die versinkende Puppe und wisperte etwas, einen Zauberspruch oder ein Gebet. Aus der kleinen Faust ragte ein Puppenbein aus Plastik heraus. Es war hautfarben und sah aus wie ein überzähliger Finger. Als die Puppe ganz und gar verschwunden war, sprang das Mädchen davon. Die kleinen Schritte hallten auf dem Metallboden und verklangen.
    Als sie auf die Stelle blickte, wo die Puppe ins Wasser gefallen war, glaubte Jenni ihre immer blasser werdende Gestalt unter den Wellen zu sehen. Sie malte sich aus, wie die Unterwasserströmung die Plastikaugen und das starre Lächeln nach unten drehte. Es war eine hypnotische Vorstellung. Sie sog Jenni ein, es war so leicht, sich ihr hinzugeben. Das Metall unter den Schuhsohlen bebte in einem tiefen, in Trance versetzenden Ton.
    Jenni spürte eine Hand auf der Schulter und zuckte zusammen. Eine zweite Hand schob sich unter ihre Bluse. Sie hörte Aarons Atem an ihrem Ohr.
    »Kehren wir um«, sagte er.
    »Wo ist Miro?«, fragte Jenni und blickte sich nervös um. Miro und das Mädchen, das seine Puppe ins Wasser geworfen hatte, durften die Hand, die sich unter ihrer Bluse bewegte, auf keinen Fall sehen.
    »Im Auto, er liest. Kehren wir um.«
    Aarons Liebkosung war entschlossen und derb. Die hastige Erregung eines Mannes, der über zwanzig Jahre älter war als Jenni und nicht mehr unbegrenzt Zeit hatte.
    »Wir kehren nicht um«, sagte Jenni. »Das können wir nicht.«
    Aaron zog die Hand langsam unter der Bluse hervor. Er lehnte sich an die Reling. Die Haare an seinen Schläfen waren wie sonnenverdorrtes Gras. Aus den Ohren wuchsen ihm Härchen; Jenni hatte ihn nicht darauf aufmerksam machen wollen. Im Allgemeinen taten ihr die Anzeichen für Aarons Altern wohl, denn sie erlaubten ihr, sich jung und begehrenswert zu fühlen. Doch diesmal stimmten die im Wind wehenden grauen Haare sie nur traurig.
    »Gerade hat ein kleines Mädchen seine Puppe ins Wasser geworfen«, sagte sie.
    Die Worte klangen verloren vor dem Wind, der um sie herum brauste. Es hörte sich an, als würde irgendwo ein riesiges Lagerfeuer brennen. Aaron lachte hohl, doch seine Schultern bebten noch vor zurückgewiesener Erregung. Er reagierte nie auf Jennis Beobachtungen. Sie waren zufällig, ohne vernünftige Bedeutung. Die Gleichgültigkeit des Mannes war erleichternd. Vor Aaron war Jenni ihren bedeutungslosen Wahrnehmungen und Ängsten schutzlosausgeliefert gewesen. Aaron war wie ein Nachrichtensprecher, dessen Gesicht einen glauben lässt, das Chaos sei unter Kontrolle.
    Das Ufer näherte sich. Eine felsige Erhebung, der Anleger und eine Straße, die am Meer endete, als wäre die Erde unter ihr weggebrochen. Jenni und Aaron
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